»Toilettenpapier ist jetzt das weiße Gold«

Von der Rolle / ZEIT Campus / Juni 2020

Toilettenpapier ist vom banalen Haushaltsgegenstand zum Symbol der Corona-Krise geworden. Warum blieben die Regale leer?

Diese Geschichte endet am 14. April um etwa 10.30 Uhr, als sich zwei Männer Ende zwanzig vor dem Regal eines Rewe-Marktes in Hamburg entscheiden, doch noch eine Packung Ja!-Super-Soft-Toilettenpapier mitzunehmen – zur Sicherheit.

Toilettenpapier, ausgerechnet, wird in diesem Frühling zum Symbol der Corona-Krise: Nur wenige Tage nachdem Nordrhein-Westfalen am 26. Februar den ersten Corona-Fall gemeldet hatte, war die Nachfrage nach Toilettenpapier um 700 Prozent gestiegen. Hamsterkäufe. Ausnahmezustand. Regierungschefs schalteten sich ein. In den Niederlanden verkündete der Ministerpräsident Mark Rutte: „Wir haben so viel, wir können zehn Jahre kacken“, um das Volk zu beruhigen. In Deutschland mahnte Angela Merkel: „Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidarisch.“

Viele Regale aber blieben trotzdem leer. Warum?

Um diese Frage zu beantworten, folgt dieser Text dem Weg des Toilettenpapiers und zeigt so nicht nur seine Lieferkette, sondern gibt auch Einblicke in die Psyche eines Landes im Ausnahmezustand. Er führt zu einem Forstwirt, der sich mehr um das Klima sorgt als um die Auswirkungen der Corona-Krise, und zu Ingenieuren, einem Lkw-Fahrer und Verkäuferinnen, die wie im Chor verkünden: „Bitte, macht euch keine Sorgen. Das Toilettenpapier geht nicht aus.“ Er zeichnet eine von Millionen möglichen Routen nach, die eine Rolle Toilettenpapier bis in die Badezimmer dieses Landes zurücklegen kann. So könnte dieser Text auch in Finnland, Schweden oder Brasilien beginnen, den Ländern, aus denen Deutschland einen Großteil seines Zellstoffs bezieht. Oder an einem Altpapier-Container, weil rund die Hälfte des in Deutschland produzierten Toilettenpapiers daraus recycelt wird. Hier führt der Weg nun auf leeren Autobahnen über Mannheim und Neuss nach Hamburg und beginnt in der Heimat von Winfried Matt: dem Schwarzwald.

KAPITEL 1: DER HERR DES WALDES

Den Anfang machten Josef und Theresia Matt, als sie 1960 auf dem Geigerbauernhof in Mühlenbach, 35 Kilometer von Freiburg entfernt, rund 600 Fichtenstecklinge hinter ihrem Hof pflanzten. Heute sind diese fast vierzig Meter in den Himmel gewachsen. Und Winfried, 38, Sohn der Matts, wundert sich, dass seine Nadelbäume Teil eines Produktes sind, das plötzlich zu den begehrtesten Gegenständen der Gegenwart zählt: Seine Fichten sind der Rohstoff für Toilettenpapier.

Winfried Matt führt den Geigerbauernhof mittlerweile in zehnter Generation, vor sechs Jahren übernahm er ihn von seinen Eltern. Ein Bauernhof wie aus einer Vorabendserie, umgeben von saftig grünen Wiesen, auf denen 25 Kühe und 20 Kälber grasen. Hinter dem Hof stehen auf einer Fläche, so groß wie die Münchner Theresienwiese, Weißtannen und Douglasien neben buschigen Fichten. Die verkauft Winfried an Sägewerke.

Seit der Corona-Krise haben diese wie viele Unternehmen allerdings weniger Aufträge, und Winfried hat weniger Abnehmer für seine Fichten. Sein Betrieb ist aber vergleichsweise klein, und deshalb hat das keine Auswirkungen auf die Produktion des Toilettenpapiers. Die nicht verkauften Bäume sind nicht Winfrieds größte wirtschaftliche Sorge. „Viel schlimmer als Corona ist die Klimakrise“, sagt er. Die warmen Winter, die trockenen Sommer. Die Borkenkäfer, die sich in seinen Fichten einnisten und sie von innen zerfressen. „Das ist die wirklich große Gefahr für mein Geschäft“, sagt er.

KAPITEL 2: DIE BIENENKÖNIGIN

Winfried verkaufte seine letzte Lkw-Ladung mit Fichtenstämmen vor zwei Wochen an das Sägewerk Streit, etwa neun Kilometer in Richtung Nordost. Wenn die Lkw-Fahrer ihre Stämme auf dem Hof des Sägewerks in Hausach abladen, sehen sie sonst vor lauter Bergen aus Sägemehl die Produktionshalle kaum. Doch jetzt in der Pandemie: „Alles leergefegt!“ Das sagt Jennifer de Buhr, 36, die Forstwissenschaft in Freiburg studiert hat und das Werk in ein paar Jahren von ihrem Vater Klaus übernehmen möchte. „Die Nachfrage nach Zellstoff ist aktuell sehr hoch“, sagt sie.

Abgesehen davon, hat das Sägewerk gerade auch weniger zu tun. Seit März wurden zeitweise mehr als die Hälfte der Aufträge gestoppt. Das Hauptgeschäft des Sägewerks ist die Produktion von Balken, Brettern und Latten, die wegen der Kontaktsperre nur eingeschränkt verbaut werden können. Deshalb müssen viele Angestellte für zwei Wochen in Kurzarbeit, und eine von zwei Schichten wurde gestrichen. „So hoffen wir, danach wieder voll arbeiten zu können“, sagt Jennifer. Normalerweise fahren pro Tag 50 Lkw mit Schwarzwaldfichten auf ihren Werkshof, jetzt sind es 25. „Noch haben wir aber was zu sägen.“

Im Videostream führt sie durch das Sägewerk, in dem es aussieht wie in einem Bienenstock: Knallgelbe Lkw verladen Stämme auf eine Art Förderstraße, auf der die Stämme entrindet, von mannshohen Sägen geschnitten und anschließend zu Brettern gesägt werden. Zellstoffhersteller interessieren sich aber nicht für die Bretter, sondern für das, was von ihnen übrig bleibt. Wenn das Sägewerk „aus dem Runden das Eckige macht“, wie Jennifer sagt, fallen etwa 40 Prozent vom Stamm als Restholz an: Sägemehl und Hackschnitzel, etwa 2,5 mal 3 Zentimeter große Holzchips. Preis: laut Branchendienst EUWID rund 60 Euro die Tonne. Die Zellstofffabriken wollen am liebsten Fichten- und Buchenreste. Deren Struktur garantiert das Papier, was sich Kunden wünschen: reißfest und weich. Außerdem werde die Herkunft des Holzes immer wichtiger, sagt Jennifer. „Deshalb sind wir PEFC- und FSC-zertifiziert.“ Und meint damit die Gütesiegel für eine nachhaltige Forstwirtschaft, mit denen auch das Fichtenholz von Winfried Matt ausgezeichnet ist. Sie versprechen, dass das Holz nicht aus Gebieten stammt, in denen Siedlungen indigener Bevölkerung durch Rodung bedroht werden oder die Umwelt beim Anbau durch Pestizide belastet wird.

„FSC-100-Holz ist das beste, was man bekommen kann“, sagt Almut Reichart vom Umweltbundesamt. Und trotzdem sagt Jennifer: „Aus Hackschnitzeln könnte man sinnvollere Dinge fertigen als Toilettenpapier.“ Spanplatten, aus denen Möbel gebaut werden können, zum Beispiel. Toilettenpapierfasern gelten für den Umweltkreislauf als verloren, sobald man sie im Abfluss herunterspült. Das Umweltbundesamt rät deswegen zu Recyclingpapier mit dem Blauer-Engel-Symbol, weil dafür nur Holzfasern verwendet werden, die schon einmal für Zeitungen, Kopierpapier oder Magazine verwendet wurden.

Jennifer sagt: „Bei uns gibt es keinen Abfall. Wir verwenden alles bis zum letzten Sägemehlkorn.“ Derzeit bedeutet das: Auch bei halber Auslastung des Betriebs und weniger Aufträgen fahren jeden Tag rund 15 Lkw, beladen mit je 22 Tonnen Hackschnitzel, vom Sägewerk Streit in das gut 170 Kilometer entfernte Mannheim. In der Sandhofer Straße steht dort die Fabrik, in der die Fichtenreste der Matts zu Toilettenpapier verarbeitet werden.

KAPITEL 3: DIE MOLEKULARKÖCHIN

Entlang der Lieferkette wandelt sich der Rohstoff für das zukünftige Toilettenpapier in seinen Formen und Aggregatzuständen. Winfried holt die Bäume aus dem Wald, Jennifer lässt aus dem Stamm eckige Hackschnitzel sägen, Anna Eichler kocht das Holz. „Das ist wie bei Kartoffeln“, sagt sie. „Je größer, desto länger müssen die Hackschnitzel kochen.“

Anna, 31, ist Prozessingenieurin beim schwedischen Konzern Essity, dem größten der sechs Unternehmen, die den deutschen Toilettenpapier-Markt beherrschen. Essity stellt unter anderem die Marken Zewa, Danke und diverse Eigenmarken des Handels her. Vor der Mannheimer Produktionshalle kippen Lkw jeden Tag Hackschnitzel auf Förderbänder, die dort sortiert werden und am Ende in riesigen Kesseln landen. Das Holz stammt, nach eigenen Angaben, größtenteils aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern. Nur eine kleine Menge werde aus dem Ausland dazugekauft.

Annas Arbeit erinnert an die einer Molekularköchin mit Michelin-Stern für plüschiges Toilettenpapier. Sie überwacht, wie die Hackschnitzel bei 140 Grad je nach Holzart und Verfahren zehn bis zwanzig Stunden vor sich hin kochen und mit Peroxid gebleicht werden. „Die Kunden mögen es schön weiß“, sagt Anna. Damit der Zellulosebrei zu Papier gepresst werden kann, wird er noch einmal mit Wasser verdünnt, zwischen zwei riesige Siebe gepumpt und von einem überdimensionalen Zylinder auf einer Filzbahn ähnlich wie von einem Bügeleisen getrocknet. Anna beschreibt das als „Papierschöpfen in sehr, sehr groß“. Danach lässt sich zum ersten Mal das Endprodukt erahnen: Papier mit 85 Prozent Weißgehalt, 0,1 Millimeter dünn, 2,60 Meter breit und aufgewickelt auf einer sogenannten Mutterrolle. Einlagiges Toilettenpapier, so breit wie eine Bettdecke.

Für Essity arbeiten in Deutschland rund 4.500 Mitarbeiter, an drei von sechs Standorten produzieren sie 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Toilettenpapier. So war es auch schon vor der Corona-Krise. Seit März hätte das Unternehmen aber etwa auf Sondereditionen verzichtet, damit die Maschinen weniger häufig umgebaut werden müssen, erklärt Michaela Wingefeld, Pressesprecherin von Essity Deutschland. Am 12. März twitterte das Unternehmen: „Mehr als 66.000 Paletten haben wir vergangene Woche alleine aus #Mannheim versandt. Jeden Tag verlassen bis zu 400 LKW das Werk. Hamsterkäufe sind also unnötig! #Toilettenpapier“

KAPITEL 4: DER STYLIST

Toilettenpapier, wie wir es kennen, gibt es in Deutschland erst seit den Fünfzigerjahren, als das WC, das Water-Closet, seinen Weg in die Haushalte fand. Vorher benutzten die Menschen in Streifen geschnittenes Zeitungspapier. Heute gibt es dreilagiges von Ja! für 29 Cent oder fünflagiges, extra-flauschiges von Zewa für 68 Cent die Rolle. Mal riecht es nach nichts, mal nach Lavendel oder Kamille. Mal sind Marienkäfer, mal Delfine oder Schafe darauf geprägt.

Der Mann, der bei Essity festlegt, welches Papier aus den Mutterrollen gelegt und gestanzt werden soll, ist Guillem Miquel Erice, 29, Prozessingenieur. „Bei Toilettenpapier ist echt alles möglich“, sagt er. Einmal habe er sogar Papier mit Goldfarbe geprägt. Der Grund für die Vielfalt: Wie viel Toilettenpapier ein Mensch braucht, das bleibt über die Jahre stabil. Der prognostizierte Umsatzanstieg ist mit etwa 1,5 Prozent jährlich, so der Statista Consumer Market, sehr gering. Deshalb versuchen sich die Hersteller gegenseitig zu überbieten, in dem sie sich neue Düfte und Drucke ausdenken und auf Trends wie Monstera oder Eukalyptus bei Instagram reagieren.

Wie viele Rollen Toilettenpapier Essity im Jahr herstellt, will die Firma nicht genau angeben. Sie sagt nur so viel: „Wir produzieren in Deutschland im Jahr 580.000 Tonnen Hygienepapier.“ Angenommen die Hälfte davon, also 290.000 Tonnen, wären Toilettenpapier, dann wären das bei einer 90 Gramm schweren Rolle etwa 3,2 Milliarden Rollen von Essity – und damit etwa 35 Prozent des jährlichen Bedarfs in Deutschland. Oder anders ausgedrückt: Essity würde nach dieser Rechnung 38,5 Rollen Toilettenpapier von den 110 produzieren, die ein Bundesbürger im Jahr laut Statista Consumer Market verbraucht.

Nun ist es allerdings so, dass Menschen auch in Restaurants, Schulen und Büros das WC benutzen: Orte, die während des Lockdowns geschlossen blieben. Georgia-Pacific, ein führender Hersteller in den USA, schätzte, dass ein Haushalt etwa 40 Prozent mehr Toilettenpapier als sonst verbrauche. Das US-Magazin Marker erklärte sich die leeren Regale in Supermärkten daraufhin damit, dass die Hersteller ihre Produktion nicht richtig angepasst hätten. Statt mehr Toilettenpapier für den Konsumenten, hätten sie weiterhin auch welches für die Industrie hergestellt. Bei Essity sieht man das anders. „Wir produzieren genug Toilettenpapier für alle“, sagt Michaela Wingefeld.

Die Spur führt also weiter, auf die leeren Autobahnen dieses Landes.

KAPITEL 5: DER V-MANN

Dennis Weidlich, 29, fährt Lkw wie schon sein Vater und sein Großvater. An einem Mittwoch Mitte April rollt sein DAF-Truck mit einem Wimpel des 1. FC Magdeburg am Spiegel um 10.30 Uhr aus dem Essity-Lager in Neuss 400 Kilometer in Richtung Stelle bei Hamburg. Seine Ladung: 19 Paletten Taschentücher und 27 Packungen Zewa Ultra Clean, 4-lagig. „Der Lkw könnte locker die doppelte Menge transportieren“, brummt Dennis, aber so sei das eben, „hat man ja keinen Einfluss drauf, was man so transportiert“.

Bis vor ein paar Wochen habe das auch niemanden interessiert, sagt er. Jetzt aber, wegen Corona, witzelten seine Freunde schon, er solle aufpassen, dass ihn keiner ausraube. Dennis fasst die Lage zusammen: „Toilettenpapier ist jetzt das weiße Gold.“ Inzwischen habe sich seine Ladung auch in seiner Wahlheimat Mogendorf, nahe Koblenz, rumgesprochen. Mit seinen Nachbarn teilt er deshalb das Toilettenpapier, das er noch aus dem Essity-Werksverkauf zu Hause hat. „Mit den zehn Packungen, die ich da neulich noch gekauft habe, habe ich ja mehr als genug“, sagt Dennis. In einer lokalen Facebook-Gruppe informiert er auch sein Dorf: Macht euch keine Sorgen, ihr müsst nur auf die kommende Lieferung warten, die kommt schon.

„Ich seh ja, was in den Lagern steht: genug“, sagt Dennis. „Da kommt man nur als Fahrer nicht so schnell hinterher.“ Seine Erklärung für die leeren Regale: Es gäbe zwar genügend Toilettenpapier, aber keine zusätzlichen Lkw-Fahrer. „Außerdem müssen wir ja trotzdem unsere Lenk- und Ruhezeiten einhalten.“ Dazu komme der Corona-Mindestabstand, der verzögere auch die Warenannahme. André Schwarz vom Bundesverband für Groß- und Außenhandel stimmt ihm zu. Zeitweise seien Fahrer und Lagerplätze im ganzen Land knapp gewesen, sagt er am Telefon, außerdem hätten Grenzkontrollen die Fahrzeiten zusätzlich verlängert. „Die Logistik ist ein sehr fein abgestimmtes System“, sagt Schwarz. „Das kann man nicht über Nacht auf einen siebenfachen Nachfrageanstieg einstellen.“ Vor allem wenn man wüsste, dass die Nachfrage nicht von Dauer sei. „Wer stellt schon seine ganze Produktion und Lieferkette um, wenn er weiß, dass sich das nicht lohnt?“, fragt Schwarz.

Am frühen Abend ist Dennis in Stelle, etwa 20 Kilometer südlich von Hamburg, angekommen. Um 22 Uhr legt er sich auf die Liege hinter seinem Fahrersitz, hört noch ein bisschen Musik, Charts im Radio, dann schläft er ein. Am kommenden Morgen leuchtet auf seinem Display um 8.17 Uhr eine Aufforderung: Tor 22 ist bereit.

KAPITEL 6: DIE AMEISEN

Ein paar Minuten später klebt eine Frau einen Zettel auf die 27 Packungen Zewa Ultra Clean, die Dennis geliefert hat: „Achtung Fehlartikel!“ Das bedeutet: Dieses Produkt fehlt aktuell in vielen Supermärkten und wird dringend benötigt. Der Logistiker Sascha Schneider, 47, und seine Kollegen nehmen in Stelle die Bestellungen von mehr als 500 Rewe-Märkten in Norddeutschland entgegen. „Hier erfährt man zuerst, wenn irgendwo was knapp wird“, sagt Sascha und zeigt auf Kommissionierer, die Gewürzgurken, Waschmittel und Milch in meterlange Regale gabelstapeln. „Gerade bemerken hier echt alle, wie wichtig sie für die Menschen sind“, sagt Sascha. Fast jeder verzichtete freiwillig auf seine freien Schichten. Viele würden am Wochenende arbeiten, Rewe stellte rund 100 neue Leute ein.

Anfang März, erinnert er sich, habe es auch hier angefangen, dass sich auf den Paletten immer mehr Toilettenpapier stapelte. Die Rewe-Zentrale in Köln entschied deswegen: Alle Märkte bekommen gleich viel Toilettenpapier. Mangelwarenverteilung heißt das, ein Wort, das er vorher nicht kannte und das es bei Rewe noch nie gab, sagt Sascha. Er findet das fair: „Sonst bekommt ein Markt alles und einer gar nichts.“ Seine Erklärung für die leeren Regale: „Grundsätzlich ist die Versorgung ja gesichert, man muss eben nur warten, bis Nachschub da ist – und rechtzeitig da sein.“ Der Mangel also als Momentaufnahme, nicht als Dauerzustand.

KAPITEL 7: DIE SEELSORGERIN

Am Dienstagmorgen nach Ostern fahren Lkw aus dem Zentrallager Stelle neues Toilettenpapier in die Märkte. Es gab einen nicht näher bekannten Fehler im System, deshalb wird nicht das Zewa Ultra Soft von Dennis verteilt, sondern Rewes Eigenmarke Ja!

In Hamburg-Altona, in der zweitgrößten Rewe-Filiale der Stadt, sind die Klopapier-Regale fast restlos leer gekauft, nur ein paar Feuchttücher sind noch da. Dort, wo sich sonst die Packungen stapeln, baumelt ein A4-Blatt. Darauf steht: „Die Warenversorgung ist gesichert, bitte kauft nur in haushaltsüblichen Mengen ein, damit JEDER auch etwas bekommt.“ Um etwa 9 Uhr stellt eine Aushilfe 108 Packungen auf den Gang zwischen die Wasch- und Putzmittel.

„Wir machen uns nicht mehr die Mühe, das zu verräumen“, sagt Carolin Jenßen, 24, die stellvertretende Leiterin der Filiale, „das Toilettenpapier ist ja meist sofort weg.“ Den Dauereinsatz, den sie und ihre Kollegen seit Wochen leisten, beschreibt sie so: „Es ist, als wäre jeden Tag Silvester.“ Tausende Kunden täglich, doppelt so viele wie sonst, und immer wieder einräumen, einräumen, einräumen. „Da ist man abends einfach nur noch erschöpft“, sagt Carolin.

Am Anfang der Corona-Krise legten die Kunden erst mehr Konserven in ihre Einkaufswagen, dann Mehl, irgendwann auch Haarschneider und natürlich: Toilettenpapier.

Fälle wie im nordrhein-westfälischen Bergneustadt, wo sich eine Kundin wegen der Kaufbeschränkung aufs Kassenband setzte, gab es in ihrer Filiale nicht, sagt Carolin. Dafür viele Kunden, die mehr als eine Packung kaufen. Das sei verständlich, wenn sie für andere einkaufen, findet Carolin. Nicht so verständlich, wenn es nur für sie selbst ist. Dass sie nichts gegen die leeren Regale tun kann, ärgere sie. „Normalerweise fehlt hier nichts, und das bei fast 60.000 Artikeln.“

Normalerweise, ansonsten, vor der Corona-Krise. Wörter, die fast alle Menschen auf dem Weg des Toilettenpapiers nutzen, um den Ausnahmezustand zu beschreiben. Die Antwort auf die Frage nach den leeren Supermarktregalen liegt nicht allein auf der Autobahn bei Dennis, nicht in den Zentrallagern oder bei den Hamsterkäufern. Die Antwort liegt bei allen, vor deren Augen das Toilettenpapier in diesem Frühling eine Metamorphose wie in einem griechischen Theaterstück durchlebt hat. Neben Desinfektionsmitteln war das Toilettenpapier eines der ersten Produkte in der Krise, das die Macht der Masse und die Zerbrechlichkeit eines fein abgestimmten Produktionszyklus demonstriert hat. Im April ist der unglaubliche Aufstieg des Klopapiers so gut wie vorbei, die Nachfrage laut Statistischem Bundesamt in der ersten Aprilwoche schon wieder um 29 Prozent gesunken. Plexiglas ist nun die neue Mangelware.

Im Rewe-Markt sind von den 108 Packungen anderthalb Stunden später noch 95 da. Die Käufer: zwei ältere Frauen mit Mundschutz, ein mittelaltes Paar, eine junge Frau.

Dann nähern sich zwei Männer, Ende zwanzig, einer mit Schiebermütze, einer ohne. „Brauchen wir, oder?“, fragt der mit der Mütze und zeigt auf die Palette. „Ich hab gerade erst eine Packung angebrochen“, sagt der andere.

„Egal, lass trotzdem mitnehmen.“

Und so gingen sie mit einer Packung Ja!-Super-Soft, vierlagig, 10 x 160 Blatt, für 3,35 Euro nach Hause.