Ich kam, sah und sparte

Ich kam, sah und sparte / ZEIT Campus / April 2020

Für Geld hat sich unsere Autorin bis jetzt nicht besonders interessiert. Kann sie lernen, wie man richtig spart und dadurch Freiheit gewinnt?

Und dann war er da. Der Brief vom Bundes- verwaltungsamt in Köln, freundlich im Ton, brutal in der Analyse. In einer Tabelle stand meine Bachelorstudienzeit, daneben eine Zahl: 7086,50 Euro. Meine Schulden, meine Bafög-Rückzahlung. Die Bundeskasse Halle forderte ab sofort jedes Vierteljahr 390 Euro von mir, die kommenden fünf Jahre lang.

Uff.

Dass dieser Brief eines Tages kommen würde, hatte ich in den vergangenen Jahren verdrängt. Ich schob den Brief zurück ins Kuvert und legte ihn erst mal weg.

Wie vielen Kommilitoninnen und Kommilitonen hatte mir das Bafög nicht nur mein Politikstudium mitfinanziert, sondern auch andere Dinge: die Interrail-Reise über den Balkan, die ultraleichte Isomatte, mein MacBook Pro. Ich hatte im ersten Semester zwar angefangen, immer mal wieder 50, 60 Euro zur Seite zu legen. Allerdings nur für die kommenden Semesterferien oder das nächste iPhone. Mehr war von den 950 Euro, die ich durch mein Bafög, den Nachhilfejob und die Honorare aus meiner Arbeit als freie Journalistin monatlich zur Verfügung hatte, nicht drin.

Rente, Altersvorsorge oder Geldanlage waren für mich Wörter, mit denen sich »richtige Erwachsene« beschäftigen. Vokabeln einer vorausschauenden Lebenseinstellung, für die ich mich noch nicht bereit fühlte. Um meine Rente könnte ich mich schließlich noch kümmern, wenn ich irgendwann einen Job hätte. So dachte ich.

Mittlerweile bin ich 28, und aus dem irgendwann ist Gegenwart geworden. Ich lebe nicht mehr in einer Fünfer-WG, sondern in einer eigenen Wohnung, und mit meinen Freunden treffe ich mich in Bars, die nach Tieren benannt sind und in denen wir Gin Tonics für neun Euro das Glas trinken. Obwohl ich heute mehr Geld habe, spare ich immer noch höchstens auf einen neuen Rucksack oder die nächste Reise. Einen ande- ren Plan, was ich mit meinem Geld machen könnte und vielleicht auch machen sollte, habe ich nicht.

Auch ein Jahr nach meinem Berufseinstieg zähle ich mich noch zu den 52 Prozent der Menschen zwischen 17 und 27, die laut der Jugendstudie des Versorgungswerks MetallRente nicht für ihr Alter vorsorgen. Jetzt, mit einem richtigen Job, als fast richtige Erwachsene, will ich deshalb lernen, wie das geht: klarkommen mit meinem Geld, die Bafög-Schulden loswerden und sparen für später.

Dafür reise ich zu meiner Oma in Eisenhüttenstadt, der selbsterklärten Finanzministerin unserer Familie. Zu Valentina Dapunt nach Innsbruck, einer 22-jährigen Geld-Influencerin. Und zu Ingo Schröder in Köln, der als Finanzberater gerade als bester Jungmakler Deutschlands ausgezeichnet wurde.

In Hamburg steige ich in den Zug und fahre zu meinen Großeltern. 60 Prozent der 17- bis 27-Jährigen, das fand die MetallRente-Studie heraus, wenden sich, wenn’s ums Geld geht, am liebsten an ihre Familie. Auch bei mir ist das so. Seit mehr als 50 Jahren organisiert meine Oma Brita die Finanzen für meinen Opa und sich.

Oma begrüßt mich am Bahnhof in Eisenhüttenstadt mit einer festen Umarmung und einem nassen Wangenkuss. »Ich habe mir nun einige Gedanken gemacht, was ich den jungen Leuten mit auf den Weg geben will. Eigentlich ist es recht einfach …«, beginnt sie schon im Auto. Ich winke ab: »Omi, lass uns das Geschäftliche morgen klären.«

Meine Oma, 1941 in Dobersaul an der Oder geboren, begann ihr Arbeitsleben am 1. September 1956 als Schwesternschülerin im Krankenhaus Beeskow, da war sie 15 Jahre alt. Von den 54 Mark, die sie damals im Monat bekam, kaufte sie sich nicht viel, mal ein neues Kleid, Schuhe mit Absatz oder eine Orangenbrause für 20 Pfennig, erzählt sie. Den Rest legte sie weg, in bar, in eine Metallschachtel im Küchenschrank. Nach zwei Jahren hatte sie rund 800 Mark gespart. »Es fiel mir leicht, weil ich ja keine großen Ansprüche hatte.« Meine Oma ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, teilte sich ein 20-Quadratmeter-Zimmer mit ihrer Mutter, ihrer Oma und ihrer Großtante. Die Nachkriegsjahre waren auch in der DDR vom Wiederaufbau geprägt. Anders als unsere Generation mussten unsere Großeltern den Wohlstand nicht halten, sondern erst mal erreichen. »Jeder wollte in den Urlaub fahren, einen Fernseher, ein Auto besitzen«, sagt sie. Omas erstes Auto, einen pinken Wartburg, Baujahr 1962, »eine Limousine!«, kaufte sie mit 26. Da wohnte sie mit meinem Opa, meiner Mutter und meinem Onkel noch im Plattenbau. Heute, mit 78 und 80, leben meine Großeltern in ihrem eigenen Haus. Gemeinsam kommen sie nach 45 Arbeits- jahren als OP-Schwester und Kranführer auf etwa 3000 Euro Rente im Monat.

Als sie mir das vorrechnet, denke ich an die Prognose für die Rente, die am 1. Mai 2058 auf mich wartet. Mit 67, das habe ich auf der Zugfahrt online vom Rentenrechner des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft angezeigt bekommen, würde ich 1265 Euro erhalten. Das liegt fast 200 Euro unter dem Wert, den die Deutsche Rentenversicherung derzeit für die Standardrente von in Westdeutschland wohnenden Menschen bei 45 Arbeitsjahren vorsieht: 1487,25 Euro. Was allerdings weder der Rentenrechner noch die Deutsche Rentenversicherung vorhersehen können, ist, wie wir in Zukunft leben und arbeiten werden. Dafür ist schon jetzt klar: Deutschland wird immer älter und wird in den kommenden 30 Jahren voraussichtlich zehn Millionen Einwohner verlieren. Dass im Jahr 2058 das Renteneintrittsalter immer noch bei 67 Jahren liegt und das Rentenniveau bei 48 Prozent, klingt für mich utopisch. Ich glaube, wir werden länger arbeiten und mit weniger Geld auskommen müssen. Und ich glaube, ich sollte allein deshalb endlich an- fangen zu sparen.

Meine Oma ist immer noch gut darin. Sie legt heute etwa die Hälfte ihrer Rente zur Seite, das meiste für Arbeiten am Haus, mal eine Kreuzfahrt und: »Für euch!« Ich schlucke.

»Gönnt ihr euch denn auch mal was?«, frage ich Oma beim Zitronenkuchen.
»Doch, natürlich! Einmal in der Woche gibt es Lachs.« »Oh.«
»Wieso ›oh‹?«
»Na ja, für mich bedeutet Luxus etwas anderes – am Wochenende ausgehen, verreisen, solche Dinge.«
»Du bist ja auch jung, wir brauchen das nicht mehr.«
»Aber wie kannst du so viel sparen?«
»Weil ich mein Leben lang aufgeschrieben habe, was ich ausgebe.«

Meine Oma kramt ihren Plan hervor, ein DIN-A4-Blatt, liniert, im Querformat. Überschrift: »Ausgaben 2020«, die Monate in Spalten angelegt, die Fixkosten in der ersten Zeile: Haushaltsgeld, Gas, Strom, Abo der Märkischen Oderzeitung. Den Rundfunkbeitrag, der alle drei Monate anfällt, hat sie auch aufgeführt, immer anteilig pro Monat.

Solche Haushaltsbücher kann man natürlich auch in Excel führen, in Apps wie MoneyControl oder einem Kakebo-Haushaltsbuch, nach japanischem Vorbild, in dem man seine Ausgaben kategorisiert: Unverzichtbares, Wünschenswertes, Ausgaben für Freizeit, Unvorhergesehenes. Der Mehrheit ist das alles aber zu anstrengend. Laut Deutschem Sparkassen- und Giroverband schreibt nur jeder Siebte seine Einnahmen und Ausgaben auf.

Ich versuche, meine Monatsausgaben hochzurechnen, und schaue mir meine Online-Überweisungen an. Ich öffne meine Notiz-App, für eine Haushalts-App reicht bei Oma das mobile Internet nicht, und komme auf 24 Posten. Das sind meine Fix- kosten. Darunter drei Abos, für Amazon Prime, TV Now und Audible, sowie drei Zusatzversicherungen, für meine Zähne, meinen Rechtsschutz und mein Rad. Bei den Kosten für Lebensmittel und Freizeit muss ich grob überschlagen, und ich komme auf etwa 600 Euro: 60 Euro für Taxifahrten zum Beispiel oder 60 Euro fürs Essengehen, noch mal 100 Euro für Sekt, Biere und Gin Tonics. Was mir an vielen Abenden und Nächten so wichtig schien, kommt mir nun ganz schön verschwenderisch und dekadent vor. Spaß jetzt, denke ich, kostet den Spaß der Zukunft. Andererseits kostet Verzicht auch den Spaß der Gegenwart. Warum ist Geld so gemein?

Während ich herumrechne und immer wütender auf mich selbst werde – 30 Euro für ein bisher ein Mal gespieltes Sims-Erweiterungspack?! –, unterbricht mich Oma lachend: »Siehste mal, was du alles ausgibst!« Abzüglich meiner offensichtlichen Konsumsünden findet sie meine Ausgaben aber »in Ordnung«. Mit meiner Miete, 550 Euro, hätte ich »Glück«, und die Abos könnte ich ja leicht kündigen, nicht wahr? »Nur aus der Kirche solltest du vielleicht austreten«, fasst sie zusammen. Das scheint mir ein radikaler Spartipp zu sein, weil ich ja nicht umsonst getauft und konfirmiert wurde. Doch das Prinzip ist mir klar geworden: Wer anfangen will zu sparen, muss sich mit seinem Konsumverhalten konfrontieren. Beim nächsten Mal werde ich vielleicht zweimal über- legen, ob ich nicht doch lieber auf den Nachtbus warte, statt für 15 Euro Taxi zu fahren.

Von Oma ermutigt und mit ihren für mich gekauften Falafelbällchen im Rucksack steige ich in den Zug nach Innsbruck. Valentina Dapunt, @minimal_frugal, die mit ihren glatt gekämmten Haaren schon auf den ersten Blick sehr organisiert wirkt, begrüßt mich dort am nächsten Tag bei Hofer, so heißt Aldi in Österreich. Valentina studiert im zehnten Semester Medizin in Innsbruck. Und im dritten Semester Informatik an der Fernuni Hagen, aber nur als Hobby, wie sie sagt. Mit Valentina habe ich mich verabredet, weil Sparen für sie ein bisschen ist wie Sport. Seit einem Jahr gehört sie einer losen Bewegung von Menschen an, die mehr als 50 Prozent ihres Einkommens sparen und investieren, um so mit 35 oder 40 »finanziell frei leben zu können«, wie sie sagen. Sie nennen sich Frugalisten, frugal bedeutet so etwas wie einfach und bescheiden. Die Bewegung kommt aus den USA, dort heißt sie FIRE, das steht für Financial Independence, Retire Early. Als Faustformel gilt Frugalisten die sogenannte Trinity-Studie, die drei Profs von der texanischen Trinity University 1998 veröffentlichten. Demnach kann man jedes Jahr etwa vier Prozent seines angelegten Vermögens aus- geben, ohne dass es sich verringert. Bei einer Million Euro wären das rund 40.000 Euro. Die Bewegung hat zwei Helden: die Autorin Vicki Robin, die in den Neunzigerjahren den Bestseller Your Money or Your Life schrieb, und den Blogger Mr. Money Mustache. Die Idee von FIRE zog vor allem erschöpfte Männer aus dem Silicon Valley an, die sich durch hohe Sparquoten den baldigen Ausstieg aus ihren Jobs erhofften. In Deutschland sind im vergangenen Jahr mehrere Bücher zum Thema erschienen, das größte deutsche Blog, frugalisten.de, betreibt Oliver Noelting, 31, Softwareentwickler aus Hannover.

»Als ich vor einem Jahr Olivers Videos über Investitionen sah, wurde mir klar, dass ich mein Geld auch lieber in meine zukünftige finanzielle Freiheit als in ein Auto investieren möchte«, sagt Valentina.

Freiheit ist ein Begriff, der bei den Frugalisten oft fällt. Vielen geht es nicht nur um Rendite, sondern auch darum, nicht komplett vom Arbeitsmarkt abhängig zu sein – und um Konsumkritik, darum, auf den Coffee to go zu verzichten, nicht immer das neueste iPhone zu kaufen. Im April 2019 kündigte Valentina deswegen ihren teuren Handyvertrag, fing an, ihre Kleidung öfter auf Flohmärkten zu kaufen, und nutzte endlich ihren Studierendenrabatt fürs Fitnesscenter.

Heute hat Valentina ungefähr 1400 Euro im Monat, von denen sie die Hälfte in Aktienfonds und Direktkrediten anlegt. Auch weil sie mehrere Jobs hat. Valentina gibt Erste-Hilfe-Kurse, spendet Plasma und arbeitet im Krankenhaus. Dazu kommen 700 Euro von ihren Eltern. Für eine Studierende, die laut 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks im Schnitt rund 930 Euro zur Verfügung hat und die Nebenkostenabrechnung gerade noch so bezahlen kann, ist Valentinas Einkommen also ganz schön hoch. Und doch kann man von ihr lernen, wie man mit wenig Geld auskommt. Valentina schreibt mir ihre monatlichen Ausgaben auf:

455 Miete
20 Strom
10 Handy
15 Fitnessstudio

30 Busticket 25 Versicherungen
170 Lebensmittel, Freizeit, alles andere

725 Euro

Bei Hofer bringt Valentina mir bei, wie sie beim Einkaufen spart. In der Gemüseabteilung zeigt sie auf die roten Schilder: »Ich achte immer auf Angebote«, vor der Kühltheke auf die kleinen Zahlen in der rechten unteren Ecke der Preisschilder: »Immer auf den Kilopreis schauen!«, und im Gang auf die abgepackten No-Name-Spirelli: »Schmeckt mir genauso gut wie Barilla.« Auf Säfte, Fleisch und Süßes versucht sie zu verzichten. Und ihr Waschmittel will sie vielleicht bald ersetzen. Das könne man auch aus Kastanien herstellen. Alkohol trinkt sie seit zwei Jahren nicht mehr, schmeckte ihr eh nicht, dazu die Kopfschmerzen. Ihre Lieblingsgerichte sind Gnocchi mit Tomatensoße und Reis mit Gemüse. Dinge, die mir auch schmecken, zu denen ich aber immer öfter teure Seitansteaks brate. Ich fühle mich schon wieder verschwenderisch.

Bei Nudeln für 3,50 Euro bei Yummy Noodles & Co erzählt mir Valentina, dass ihr Leben vor einigen Jahren noch ganz anders aussah. »Da bin ich an einem Samstag noch von 10 bis 18 Uhr shoppen gegangen und habe mir fünf Markenpullover gekauft«, sagt sie. »Heute brauche ich das nicht mehr, weil sich meine Bedürfnisse geändert haben.« Ihre Urlaube verbringt sie nun nicht mehr in Barcelona und Paris, sondern an den Tiroler Seen, wo sie gerne Psychologie- und Finanzratgeber wie Influence: The Psychology of Persuasion des amerikanischen Psycho- logen Robert B. Cialdini liest.

Valentina spricht oft von »damals« und »heute«. Als wäre sie heute jemand anderes, als wäre sie durch die magische Kugel der Mini Playback Show geschritten. »Ich will mein Geld nur noch für das ausgeben, was mir wichtig ist«, sagt sie. »Am Anfang dach- te ich, ich brauche mit 35 um die 450.000 Euro, um etwa 18.000 Euro im Jahr aus- bezahlt zu bekommen. Heute ist mir diese Zahl egal, ich will ja gar nicht unbedingt mit dem Arbeiten aufhören.« Sie wolle nur frei entscheiden können, wie viel und für wen sie arbeitet. »Ich möchte mehr Zeit mit meiner Familie oder in den Bergen verbrin- gen, mich ehrenamtlich engagieren, noch etwas studieren. Ich habe so viele Pläne und Ideen!«, sagt sie.

Viele werden diese Wahl – arbeite ich heute oder nicht – nie haben. Für die meisten Men- schen mit geringen Einkommen geht es bei den aktuellen Mietpreisen vor allem darum, über die Runden zu kommen. In Deutsch- land gibt es rund 518.000 Menschen, die sich ihr Studium nur mit Bafög leisten können, so wie ich damals.

Vor ein paar Tagen hat Valentina auf ihrem Instagram-Kanal eine Grafik gepostet, die einige ihrer rund 6500 Follower kritisiert haben. Auf dem Bild sind zwei Männer abgebildet, Max und Simon. Neben ihnen steht: »Max verdient 4000 Euro pro Monat, gibt 4000 Euro pro Monat aus, ist lebenslang im Hamsterrad. Simon investiert 1500 pro Monat und ist nach 20 Jahren finanziell frei. Er kann selbst entscheiden, womit er seine Zeit verbringt.« Einer kommentierte: »Was arbeitet Max? 4000 Euro würde ich auch gerne verdienen.« Ein anderer schrieb: »Ein solches Einkommen erzielen nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.« Valentina sagt: »Ich hätte auch 2500 Euro in dem Bei- spiel als Einkommen wählen können, denn es geht ja ums Prinzip: Es kommt auf die Ausgaben an, die geringer als die Einnahmen sein sollten.« Geld sei ein emotionales Thema, weil es die Menschen mit ihrem Verhalten konfrontiere. »Das hat mit mir wenig zu tun. Ich will ja niemanden missionieren, sondern nur zeigen, wie ich mich mit dem Thema beschäftige«, sagt sie. Wer ihre Videos schaut und mit ihr spricht, kann das glauben. Valentina ist keine, die sich aufdrängt oder moralisiert. Auch mit ihren Uni-Freunden rede sie kaum über ihren Lifestyle, sagt sie. »Das sind keine Frugalisten, aber wir teilen zum Beispiel eine Vorliebe für Spieleabende statt für ausschweifende Partys.«

Obwohl ich ahne, dass meine Ausgabentabelle das repräsentiert, was Valentina auf ihrem Kanal gern »die Lifestyle-Inflation« nennt, zeige ich ihr, was ich bei meiner Oma aufgeschrieben habe. Valentina gibt mir ähnliche Tipps: Abos kündigen, einen günstigeren Stromanbieter finden, erst mal die Fixkosten in den Griff bekommen, dann die Konsumfallen, Lebensmittel, Taxifahrten, Alkohol, erkennen. »Die meisten machen es ähnlich wie du«, sagt sie. »Sobald sie höhere Einnahmen haben, steigen auch ihre Ausgaben, Stichwort Lifestyle-Inflation. Dabei könntest du echt viel weglegen, um die 800 Euro.« Das klingt für mich nachvoll- ziehbar. Und hört sich trotzdem noch nach Zwangsjacke an, auch wenn die Frugalisten behaupten, Sparen bedeute Freiheit. Klar will ich sparen. Aber ich will dafür nicht aufhören müssen, gut zu essen, zu reisen, zu feiern. Ich will nicht bei jedem Bier ein schlechtes Gewissen bekommen, weil das, gut angelegt, in 40 Jahren ein paar Euro mehr zu meiner Rente beitragen würde.

Andererseits hat Valentina recht damit, dass es auf die Einstellung zum Geld ankommt und ich als Studentin bestimmt 25 Euro im Monat zur Seite hätte legen können. Indem ich zum Beispiel auf einen von drei Kneipenabenden in der Woche verzichtet hätte. Vor knapp einem Jahr, als ich an- fing zu arbeiten, hätte ich auch nicht nur 200 Euro, sondern 500 Euro monatlich auf mein Tagesgeldkonto überweisen können. Dieses Geld nützt mir schließlich später, wenn ich alt sein werde. Aber »hätte« ist eben dieses Wort, das man immer sagt, wenn es schon zu spät ist.

Am Innsbrucker Bahnhof beiße ich in ein Zillertaler Käsebrötchen, 3,60 Euro, und nippe an meinem Verlängerten, 2,50 Euro, so nennen sie in Österreich mit Wasser gestreckten Espresso. Noch habe ich mir kein Haushaltsbuch und keine Finanz-App besorgt, also schreibe ich alles in meine Notiz-App.

Ich fahre weiter nach Köln, wo ich mit Ingo Schröder verabredet bin. Ingo, 33, hat vergangenes Jahr den Jungmakler-Award gewonnen, einen Preis für seine Arbeit als unabhängiger Finanzberater, den die bbg Betriebsberatungs GmbH vergibt. Gemeinsam mit seinen zwei Tennisfreunden Marciano Koslowsky und René Lerho leitet Ingo seit fünf Jahren maiwerk Finanzpartner, eine Agentur nahe dem Zülpicher Platz in Köln. Die Agentur ist nach dem Monat benannt, in dem die drei sich vor elf Jahren kennen- lernten. Ingo ließ sich nach fünf Semestern BWL zum IHK-Honorar-Finanzanlagenberater ausbilden. Seitdem arbeitet er unabhängig, das heißt, er bekommt im Gegensatz zu vielen anderen Finanzberatern von Versicherungen und Banken keine Provision für abgeschlossene Verträge. Ingo verdient nur mit der Beratung, welche Anlageformen zu seinen Kunden passen könnten. Bei Ingo kostet das 200 Euro die Stunde. Weil wir nur einen Termin vereinbart haben, hatte er mir vorher einen Zu- gang zur Online-Finanzschule der Agentur geschickt. In mehreren Videos erklärte er mir dort die verschiedenen Anlageformen. Ich sollte außerdem einen Test machen, um herauszufinden, wie risikofreudig ich bin. Wie viel Geld wäre ich bereit, an der Börse zu verlieren, wenn meine Kurse wegen einer plötzlichen Krise wie beim Coronavirus einbrächen? Ich entscheide mich für 20 Prozent.

Ingos Büro sieht aus wie die Wohnung, in der ich gern wohnen würde, die ich mir aber auch mit ein paar Jahren frugalem Sparen kaum leisten können werde: Stuck, hohe De- cken, Holzdielen. Ingo wirkt auch lässiger, als ich erwartet hätte: Er trägt kein Tom-Tailor- Sakko, wie ich es mir bei Finanzberatern vor- stelle, und statt Budapestern weiße Sneakers. Erstaunlicherweise fühle ich mich schon nach zehn Minuten nicht mehr eingeschüchtert und verwirrt, sondern wohl. Die Macht über das Geld, wird sie bald auch meine sein?

Ingo schaltet den Beamer an und analysiert meine Antworten. »Du bist also eher der ris- kante Typ«, sagt er lachend und erklärt, dass mein Test zeige, welche Anlageformen zu mir passen könnten. Das sei wichtig, da Banken und Sparkassen, die einem Bausparverträge und Aktienfonds verkaufen, solche Faktoren meist nicht beachten würden. Ingo und seine Kollegen beraten ihre Kunden grundlegender, sie erklären ihnen erst mal, wie der Finanz- markt überhaupt funktioniert, und helfen ihnen dann bei der Entscheidung für eine Anlageform.

Wenn Ingo spricht, fallen Wörter wie »Bereitschaft«, »wohlfühlen«, »Entscheidungen«. Wörter, die angenehm klingen. Bislang habe ich mich mit Geldanlage wenig beschäftigt, weil ich glaubte, dass ich nicht genug Geld dafür hätte. Außerdem fürchtete ich Arbeit und Risiko. Ingo vermittelt mir das Gefühl, dass ich mich wahrscheinlich keinen Tag zu früh damit auseinandergesetzt habe. Das Wichtigste, erklärt er mir, sei erst einmal, einen Notgroschen anzusparen, also das Drei- bis Sechsfache meines Brutto-Monatsgehalts. Dann erst solle ich Geld investieren. Er glaubt: Zu mir könnten Exchange-Traded Funds, kurz ETFs, am besten passen, also passiv verwaltete Fonds. »Man kann sie sich wie einen Picknickkorb mit einem Stückchen Gouda, einem Glas Wein und einer Scheibe Brot vorstellen«, sagt Ingo. Man investiere dabei also in mehrere Unternehmen und nicht nur in eines, wie bei einer Aktie, die man sich wie ein einzelnes Gouda-Stück vor- stellen müsse. Aktienfonds versprechen eine stabile Rendite von vier bis sechs Prozent, Verfügbarkeit des Geldes und Sicherheit, die drei Eckpfeiler des »magischen Finanzdreiecks«, wie Ingo sagt. Seit etwa sieben Jahren gibt es nachhaltige Fonds, die auch bei seiner Agentur inzwischen häufig nach- gefragt würden. Drei von fünf Kunden entschieden sich dafür. »Auch so kann man eine grüne Wirtschaft fördern«, sagt Ingo. »Wenn den Großunternehmen die Aktionäre weg- rennen und die Rendite sinkt, denken auch die vielleicht um.« Grüner Kapitalismus also.

Je länger wir sprechen, desto mehr denke ich über die möglicherweise verpassten Jahre nach. Wie viel Geld ich jetzt wohl hätte, wenn ich mit Anfang 20 angefangen hätte zu sparen? Ingo rechnet es für mich aus. »Hättest du in den vergangenen neun Jahren monatlich 25 Euro angelegt, wären wir mit vier Prozent Rendite bei 3242,63 Euro.

Mit 50 Euro Anlage wären es 6487,25 Euro, mit 100 Euro wären es 12.974,51 Euro.« Ich beiße mir auf die Lippe. 100 Euro wären in meinen ersten Semestern vielleicht echt nicht drin gewesen, aber 50? »Ja«, lacht Ingo. »Je früher du anfängst, desto besser.«

Doch das war die Vergangenheit, jetzt rechnen wir für die Zukunft. Wenn ich heute 5000 Euro in ETFs anlegen würde und die kommenden 38 Jahre bei etwa vier Prozent Rendite 300 Euro monatlich dazuspare, könnte das Geld eine Summe von 338.392,96 Euro erwirtschaften. Das ist so viel Geld, dass ich mir 2058, die Vier-Prozent- Regel der Frugalisten angewandt, locker eine Zusatzrente von 1300 Euro auszahlen könnte.

»Aber was mache ich, wenn die Wirtschaft einbricht?«, frage ich. »Das musst du bei einer Geldanlage tatsächlich aushalten, deswegen machen wir ja diese Beratung«, sagt Ingo. »Du musst dir im Klaren sein, dass dein investiertes Geld in manchen Phasen weniger werden kann.« Im Jahr 2000 zum Beispiel, Ingo zeigt mir eine Tabelle, fiel der MSCI- World-Index um 29,5 Prozent, stieg fast 31 Monate nicht mehr an und brauchte noch einmal so lange, bis er wieder auf dem Stand vorm Absturz war. Ich glaube, ich könnte das aushalten.

Nach zwei Stunden verabschiede ich mich von Ingo und rauche erst einmal eine NIL-Zi- garette, 6,70 die Packung, 34 Cent die Kippe.

Geld, dieses große Wort, wirkt noch immer einschüchternd auf mich. Ja, Geld kann Freiheit bedeuten, wenn man klug da- mit wirtschaftet, es anlegt, wie Ingo es mir gezeigt hat. Geld bildet aber auch die große gesellschaftliche Ungleichheit ab, dass viel zu viele zu wenig davon haben und das wohl auch nie ändern können. Geld nicht nur zum Überleben zu brauchen, sondern, wie ich, auch anlegen zu können, ist deshalb nicht nur ein Privileg, es ist auch eine moralische Frage. Geldanlage profitiert nun mal vom globalen Kapitalismus, der unsere Gegenwart prägt. Dazu gehört auch die Ausbeutung schwacher Länder und Menschen, die ich vielleicht mit fördere, wenn ich die Aktien eines Erdöl- oder Bergbaukonzerns in meinem Fonds habe.

Als ich wieder in Hamburg ankomme, will ich trotzdem machen, was ich von meiner Oma, Valentina und Ingo gelernt habe. Am Wochenende überzeuge ich meine Freundinnen, mal wieder zusammen Tagliatelle zu kochen, statt was zu bestellen. Und wir trinken mal wieder Wicküler-Biere, wie in meiner Studienzeit, statt Gin Tonics. Ich suche mir einen günstigeren Internet-Vertrag, kündige die Rechtsschutzversicherung und immerhin zwei Streaming-Abos. Online richte ich einen Dauerauftrag mit monatlich 500 Euro auf mein Tagesgeldkonto ein. Außerdem weise ich zwei Überweisungen an: eine an meine Schwester, 500 Euro für den kommenden Urlaub in Marokko. Die andere an die Bundeskasse Halle. Unter Punkt 2.1 des Briefes vom Bundesverwaltungsamt war vermerkt, dass man mir 1600 Euro von der Bafög-Rückzahlung erlassen könne, wenn ich mein Darlehen, 5407,40 Euro, sofort zurück- zahle. Mein Notgroschen wird ein bisschen kleiner, ein erwachsenes Gefühl.