Musikfluencer / ZEIT Campus / August 2020
Neun Millionen Menschen schauen sich auf TikTok Videos von Falco Punch an. Reicht das, um ein Popstar zu werden?
Der Internetstar lebt bei seinen Eltern in einer verklinkerten Doppel- haushälfte, 35 Kilometer nördlich von Hamburg. Der Rasen ist gemäht, am Tor hechelt sein Golden Retriever Simba. Falco Punch, 24, dunkelblonde Haare, Fußballerkörper, kommt gerade aus dem Garten. »Hab da mal wieder was ausprobiert«, sagt er und zeigt auf seinem Smartphone zwei kurze Videos. Darauf zu sehen: Falco, wie er im Gras sitzt. »Der Übergang passt noch nicht, das muss ich noch mal machen«, sagt er.
Ein Typ vom Dorf, der Videos von sich zusammenschneidet und sie mit Musik unterlegt. Wen interessiert’s?
Neun Millionen. So viele Menschen verfolgen, was Falco Punch, der mit Vornamen wirklich so, mit bürgerlichem Nachnamen aber anders heißt, auf TikTok macht.
TikTok gehört dem chinesischen Konzern ByteDance und ist ein soziales Netzwerk, das mit seinen mittlerweile weltweit mehr als zwei Milliarden Downloads WhatsApp, Instagram und Facebook abgehängt hat. In 15- bis 60-sekündigen, meist mit Musik unterlegten Videos gibt es dort nahezu alles zu sehen, was man sich vorstellen kann: Mal tanzen US-amerikanische Soldaten durch eine Wüste, mal verkleiden sich Wuppertaler Teenager in ihren Kinderzimmern, mal spielen französische Omis mit Babykatzen. Manche Videos erreichen mehrere Millionen Menschen, drei von vier Zuschauern sind in Deutschland jünger als 24 Jahre, im Schnitt verbringt jeder von ihnen 58 Minuten am Tag dort.
Dieser Erfolg zog nicht nur Konzerne wie Otto, BMW oder L’Oréal an, um mit TikTokern wie Falco ihre Werbebotschaften in der jungen Zielgruppe zu platzieren. Er interessiert vor allem eine Branche, für die es wegen sinkender CD-Verkäufe und illegaler Downloads seit fast zwei Jahrzehnten nur noch bergab zu gehen schien und die erst seit der Erfindung des Streamings wieder im Aufschwung ist: die Musikindustrie.
Ein Song, der auf TikTok zum Hit wird, kann es auch auf anderen Portalen werden: Auf Spotify gibt es mittlerweile eine Playlist mit allen viralen Songs der vergangenen Monate. Sie hat rund 700.000 Abonnenten und funktioniert wie eine Live-Marktforschung darüber, was die Generation Z gerade hören möchte. Und die Stars der Platt- form? Könnten nach Social-Media-Entdeckungen wie Shirin David, YouTube, oder Lisa & Lena, Musical.ly, dem Vorgänger von TikTok, für Labels auf der Suche nach der nächsten Generation von Popstars zur Fundgrube werden.
Für Falco begann diese Karriere vor einem halben Jahr. Er, der ein bisschen Klavier spielen kann und manchmal bei Geburtstagspartys von Freunden auflegt, unterschrieb einen Plattenvertrag bei Universal Music. Universal ist das größte Musiklabel der Welt, mit Superstars wie Katy Perry, Taylor Swift und Helene Fischer.
Falcos erste Single ist der Dance-Track 1-2-3 Floor und an dem Nachmittag, an dem er in sein Elternhaus einlädt, seit fünf Tagen draußen. Die Zwischenbilanz: rund 30.000 Streams auf Spotify, 10.099 Views auf YouTube. Im Vergleich zu seinen Zuschauerzahlen auf TikTok, manchmal ein paar Millionen, mindestens aber ein paar Hunderttausend, ist das ein Witz. »Schade, hätte jetzt eigentlich 100k Aufrufe gehofft, aber mega Musikvideo!«, kommentierte ein Fan. Falco scheint das nicht zu stören. Er sagt: »Es ging nicht darum, mit der Single die Charts zu stürmen. Sondern darum, dass die Leute wissen: Falco Punch macht jetzt auch Musik.«
Anderen ist der Sprung von TikTok in den Pop-Himmel schon gelungen. Als erster TikTok-Hit der Geschichte gilt der Old Town Road Remix. Der Influencer Lil Nas X, 21, hatte dafür mit dem Countrysänger Billy Ray Cyrus kollaboriert, dem Vater von Miley. 2019 war der Song, halb Trap, halb Country, auf Platz eins der US- Billboard-Charts und blieb dort 19 Wochen lang. Nur Bing Crosbys White Christmas hielt sich jemals länger an der Spitze. Falco könnte nun, rein theoretisch zumindest, der deutsche Lil Nas X werden: der erste deutsche TikToker an der Spitze der Charts.
Sein Song scheint immerhin genau daraufhin geschrieben worden zu sein. Mit einem Kopenhagener Produzenten, den Universal ihm zur Seite stellte, entschied Falco sich für einen Soundmix aus Hip-Hop, Dance und EDM. »Ich wollte, dass es klingt wie bei meinen Lieblings-DJs Alan Walker oder Martin Garrix«, sagt Falco. »Außerdem haben wir darauf geachtet, dass der Song tiktokbar ist.« Das bedeutet: leicht verständliche Lyrics, damit man die Lippen dazu synchron bewegen kann, klare Beats zum Tanzen, nicht zu viele tief liegende Basslinien. Der Song ist keine zweieinhalb Minuten lang. In 15 Sekunden muss sich außerdem die Geschichte, die Hookline des Songs, erklären. Bei 1-2-3 Floor geht sie so:
1, 2, 3, 4
I drink till I fall to the floor
Done talking we don’t talk anymore
But I still call you at 6 in the morn
Lyrics, als kämen sie aus dem Kaugummiautomaten, kaum komplexer als die Captions, die Falco unter seine Videos schreibt: »What’s your NAME? My name is Falco.« Und trotzdem: 1-2-3 Floor skizziert die Geschichte einer Nacht, die sich, sofern keine Pandemie ist, jedes Wochenende und überall auf der Welt wiederholt.
Falco ist kein Künstler, der tagelang an einer Songzeile feilt oder sich monatelang für ein Album im Studio einschließt. Er kommt eher über die Technik. Falco bezeichnet sich als »Video-Creator«, arbeitet virtuos mit »Transitions«, schnellen, kaum sichtbaren Schnitten. Ein Take aus dem beige gestrichenen Wohnzimmer, der nächste vor dem Schuppen, wo er mit seinem Hund oder seiner Mutter in die Smartphone-Kamera blickt: So inszeniert er das Leben in seinem 1200-Einwohner-Dorf, dessen Namen er wie seinen Nachnamen geheim halten möchte. Seine Videos schauen schon mal rund 7,8 Millionen Zuschauer, so viele wie die Tagesschau an einem guten Abend. Wie er das macht? Er hatte nicht dieses eine Video, das ihn berühmt gemacht hat, sondern über Jahre viele, die gut ankamen. Mit seinen Transitions hat er eine Nische gefunden und gehört dort zu den Besten. Manche Fans feiern ihn sogar als »King of Transitions«.
TikToks zentrales Versprechen klingt wie ein moderner American Dream: Jeder kann es schaffen, Talent sticht Status, auch mit 200 Followern kann ein Video viral gehen. Der Algorithmus priorisiert nicht die Followerzahl, sondern die Videos mit den meisten Interaktionen. Und lieber ohne politische Botschaften, wofür TikTok immer wieder kritisiert wird. Im Dezember 2019 gab das Unternehmen zu, die Reichweiten von Homosexuellen, Autisten und Dicken absichtlich begrenzt zu haben. Falco sagt dazu: »Ich finde das nicht cool. Aber Fehler passieren nun einmal.« Es klingt wie ein abgeklärter Satz von einem PR-Profi.
Falcos Erfolg auf der Plattform ging jahrelange Arbeit voraus. Schon mit zehn fing er an, sich mit YouTube-Tutorials die Videoschnittprogramme After Effects und Premiere beizubringen. Mit 16, während er seinen Realschulabschluss nachholte, drehte er mit seinem Smartphone erste Musikvideos für rappende Kumpels. Als einer ihm sagte: »Ey, du bist so kreativ, mach das doch mal selber vor der Kamera«, meldete er sich bei der Plattform Musical.ly an. Dort wurden seine Videos vom Produzenten Andre »Brix« Buchmann entdeckt, der an Lena Meyer-Landruts Hit Satellite mitgewirkt hat. Heute managt Buchmann mit seiner Agentur Bitstream Media Lab nicht nur Falco, sondern auch noch neun andere TikToker, die zu- sammen rund 25 Millionen Menschen erreichen. »Wir bauen aber keine klassischen Influencer auf«, sagt Brix, »sondern Künstler mit unterschiedlichen Talenten: Tänzerinnen, Magier, Video-Creators.«
Man kann sich vorstellen, was einen Typen wie Falco interessant macht: Er ist der bodenständige, beliebte Kumpel aus dem Nachbardorf, der Fußballstürmer, der Freund, der mit seiner Freundin für einen Ausflug in den Heidepark Soltau fährt. Der Bildungsaufsteiger, der sich vom Hauptschüler zum Mediengestalter hochgearbeitet hat. Der Sohn, der ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern pflegt und mit seinem Golden Retriever im Arm vom Eigenheim träumt.
Dazu passen die Geschichte und der Sound seiner Single, die auch im Fun-Parc Trittau laufen könnte. Das ist die Großraumdisco, in der er vor Corona mit seinen Freunden abhing. »Da würde ich gern mal auflegen«, sagt er. »Also, wenn ich wirklich ready bin und mit meiner Musik Erfolg habe.«
Erfolg hat auf TikTok oft mit »Challenges« zu tun. So heißen Aufgaben, bei denen mal getanzt, mal einfach nur der Text zu einem Video nachgesungen werden soll. So wie früher schon bei Macarena, dem Ketchup-Song oder Gangnam Style. Bei TikTok sind eingängige Hooklines mit entsprechenden Choreografien aber keine Ausnahmen mehr, sondern eine Regel, die für jeden Einzelnen zu viralem Ruhm führen kann, weil man am schönsten getanzt oder die Geschichte des Songs am lustigsten umgesetzt hat. Klar, ein Song muss immer auch gefallen. Wenn dazu aber noch Millionen an einer Challenge teilnehmen, überträgt sich die Viralität und katapultiert den Song in die Charts. Blinding Lights von The Weeknd landete etwa auf Platz eins in Großbritannien, als Großfamilien und Krankenschwestern während des Corona-Lockdowns dazu performten. Auch die Rapper Capital Bra und Loredana riefen für ihren Song Nicht verdient zur TikTok-Challenge auf. Das Ergebnis: rund 19,3 Millionen Aufrufe auf TikTok und Platz eins der deutschen Single-Charts. Lil Nas X’ Erfolg mit Miley Cyrus’ Vater wurde ebenfalls von einer Challenge begleitet: Zu den Zeilen My life is a movie / Bull ridin’ and boobies / Cowboy hat from Gucci / Wrangler on my booty schwangen Millionen Nutzerinnen und Nutzer mit Cowboyhüten imaginäre Lassos. Challenges, auch das ist ein Erfolgsgeheimnis, sind partizipativ: Jeder, der ein Smartphone hat, kann sich an ihnen beteiligen und so Teil von etwas Großem werden.
Falco tanzt nie zu Challenges, ist nicht so sein Ding. Des- wegen bat er für 1-2-3 Floor seine Kollegin Katharina, Spitzname Kati, die ihren Nachnamen hier nicht lesen möchte, das zu über- nehmen. @katulka, 20 und rund 1,5 Millionen Follower, ist auf TikTok mit ihren Tanzvideos beliebt. Falco und sie kennen sich noch aus Musical.ly-Zeiten.
Mitte Juni führt Kati, die seit 15 Jahren Ballett, Hip-Hop und Latin tanzt und im zweiten Semester Jura studiert, durch das »Studio of Wonders«. Das ist eine Art Selfie-Kulisse am Potsdamer Platz in Berlin, 500 Quadratmeter mit nachgebauten U-Bahn-Schächten und einem verspiegelten Glaswürfel. Falco hat hier mit ihr und zehn anderen TikTokern vor einem Monat das Video zu 1-2-3 Floor gedreht, inklusive Tanzchallenge. Zu
den Lyrics der Hookline hob Kati die Arme, kreiste die Hüften, zeigte bei »call« ein Telefon. »Die Choreo hatte ich in 15 Minuten fertig«, sagt sie. »Mit zu schweren Schritten hätten wir nur einen Teil der Zielgruppe angesprochen.« Die meisten wollten auf TikTok Spaß haben und seien keine professionellen Tänzer. »Da muss die Choreo schnell zu lernen sein.« Eine gute Choreografie auf TikTok bedeute: »Alles, was man hochkant auf dem Telefon sieht und einfach nachzumachen ist.« Das Video mit dem Aufruf zur Challenge posteten Falco, Kati und andere befreundete TikToker einen Tag nach dem Release von 1-2-3 Floor.
Erfolg auf der Plattform ist immer auch Teamarbeit. Wie schon auf YouTube und Instagram helfen sich die Stars mit ihrer jeweiligen Reichweite. Sechs Wochen später hat #123Floor, der Hashtag zum Song und zur Challenge, 53 Millionen Einträge. Doch nur rund 4200 Menschen haben selbst ein Video mit Falcos Song aufgenommen und es hochgeladen. Zu wenig, um den Mediensprung zu schaffen. Auf YouTube haben gerade mal rund 105.000 Nutzer das Video gesehen, auf Spotify hat der Song bisher nur rund 240.000 Hörer. Die Songs der Rapper Ufo361, Apache 207 oder RIN werden mehr als doppelt so oft gehört – an einem einzigen Tag.
Universal will die mäßigen Zahlen auf Anfrage nicht kommentieren, die Presseabteilung schreibt: »Ein Künstler schöpft sein volles Potenzial nur dann aus, wenn alle Kanäle evaluiert und in einen maßgeschneiderten Mix zusammengestellt werden.«
Offenbar wird man bei Universal also noch darüber sprechen, was schiefgelaufen ist, aber das Lable hält an Falco fest. Single zwei und drei sollen noch dieses Jahr kommen.
Eine Erklärung, warum es mit 1-2-3 Floor nicht so richtig ge- klappt hat, könnte Nick Sylvester haben. Der Songwriter und Musikproduzent aus Los Angeles arbeitet regelmäßig mit US-amerikanischen TikTok-Größen zusammen. »Der härteste Job in der Musikindustrie ist immer noch, einem Künstler zum Durchbruch zu verhelfen«, sagt Sylvester im Videostream. »Das hat sich auch mit TikTok nicht geändert. Du konkurrierst mit anderen Künstlern um Aufmerksamkeit, bei YouTube und Instagram oder im Fernsehen.« Auf Anfrage hört er Falcos Song und schaut sich sein Musikvideo an. »Gut und shiny produziert, nichts gegen einzuwenden«, sagt er. »Aber das ist vielleicht genau das, was nicht anschlussfähig ist.« Zur Zeit dominiere Rapmusik die Charts, weil sie ehrlicher und ernster erscheint, ihre Texte ideal zum Nachsingen sind. »It’s not a shiny time right now«, sagt Sylvester. Vor allem nicht für Dance-Tracks wie
Falcos Single. Die Clubs und Großraumdiscos sind dicht, Großveranstaltungen in Deutschland bis einschließlich Oktober verboten. Da hilft auch kein Dieter Bohlen. Ende Juni postete Bohlen, eben- falls bei Universal unter Vertrag, ein Video auf TikTok und Instagram. Darin zu sehen: Falco, wie er Bohlen in seinem Haus in Tötensen Transitions zeigt. Es ist eine absurd symbolische Szene. Und das nicht nur, weil Falco wie ein Sohn wirkt, der seinem Vater an Weihnachten gerade das erste Mal Facetime erklärt. Bohlen, der Poptitan, repräsentiert auch die alte Musikwelt, die den Anschluss nicht verpassen möchte, an die Gegenwart, die jetzt mit Streams statt verkauften Platten die Charts bestimmt. In der Talent nicht mehr im Fernsehen, sondern in sozialen Netzwerken entdeckt wird. Und in der es nicht mehr Juroren sind, die aus einem Typen vom Dorf einen Musiker machen.
Es ist für Falco eine etwas tragische, aber schöne Erkenntnis: Obwohl sich viele Menschen überlegen, wie aus einem Song ein Hit wird, gibt es immer noch keine perfekte Formel. Eine Unbekannte bleibt immer, selbst auf TikTok. Die Follower, und niemanden sonst, wird Falco davon überzeugen müssen, dass er mehr als nur der »King of Transitions« sein kann. Denn eine Sache hat sich nicht geändert: Aus wem ein Popstar wird, entscheiden immer noch die Fans.