Mein Stress soll mich nicht länger stressen

Stress mich nicht / ZEIT Campus / Februar 2021

Knappe Deadlines, viele Termine und wenig Schlaf: Unsere Autorin war in ihrem Arbeits­leben immer mal wieder gestresst. Seit der Pandemie fühlt
es sich allerdings anders an. Eine Studie zeigt: Jeder Zweite fühlt sich von der Krise stark belastet. Was kann man dagegen tun? Ein Selbst­versuch

Als auch noch der Milchaufschäumer fiept, kann ich nicht mehr. Es ist zwölf Uhr mittags, ich sitze im Leoparden­Satinpyjama am Küchentisch im Homeoffice und heule. »Kannst du noch eben die Bildunterschriften texten?«, schreibt eine Kollegin. Mein Na­cken spannt, es sind noch fünf Stunden, bis ich meinen Text abgeben muss. »Kannst du bei der einen Geschichte schnell was kürzen?«, schreibt meine Chefin. Es rast in meiner Brust. Der Milchaufschäumer, dieser miese Überperformer, fiept weiter. Ich reiße die Balkontür auf und atme tief ein.

Diesen, ja was eigentlich, Stressanfall, erlebte ich Anfang November in der ersten Woche des Lockdown light. Gleich­ zeitig war es die letzte Woche unserer Heftproduktion. Das ist eine Zeit, die auch ohne Pandemie stressig ist, an die ich aber gewöhnt bin. Ich arbeite seit drei Jahren haupt­ beruflich als Journalistin, seit einem Jahr als Redakteurin. Etwas war dieses Mal also anders als sonst. Während die Infektionszahlen stiegen und die Restaurants und Kneipen dichtmachten, stand ich auf meinem Balkon und dachte: »Fuck, mir wird das alles irgendwie zu viel!«

Eine Studie der Techniker Krankenkasse ergab, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin: Jeder Zweite fühlt sich durch die Corona­Krise stark belastet. Etwas mehr als ein Drittel gab an, dass auch die Arbeit stressiger geworden sei. Das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit befragte 16­ bis 25­Jährige: Mehr als die Hälfte gab an, in der Krise unter Sorgen, Ängsten oder depressiver Stimmung zu leiden.

Die Zahlen belegen, was auch ich bei mir beobachte: Stress fühlt sich in der Pandemie existenzieller an und potenziert sich, weil da eben nicht mehr nur Deadlines und zusätzliche Aufgaben sind, sondern auch noch Sorgen um die Familie und die Freunde, ach, um die ganze Welt.

Weil ich verstehen möchte, wie es so weit kam und was man dagegen tun kann, spreche ich mit Menschen, die sich mit Stress auskennen: mit einem Arzt, der Gestresste behan­ delt, einem CBD­Start­up, dessen Produkte Entspannung versprechen, und einer Mitarbeiterin im Bundesfinanzminis­ terium, die vermutlich gerade noch gestresster ist als ich. Außerdem will ich einen Monat lang Dinge ausprobieren, die mir dabei helfen sollen, zu entspannen: eine Tageslicht­ lampe, eine neun Kilo schwere Bettdecke und CBD­Tee. Mein Stress soll mich nicht länger stressen.

DIE DIAGNOSE

Weil man ein Problem erst verstehen muss, bevor man es lösen kann, spreche ich mit Jan Kalbitzer. Er ist Facharzt für Psychiatrie in Berlin und Leiter der Stressmedizin der Oberberg Kliniken. Gerade hat er das Buch Krise als Neustart über die Chancen der Pandemie geschrieben. Ich vereinbare einen Termin mit ihm, lieber am Montag als am Freitag, sagt er. Da sei es im Homeoffice nicht so stressig.

Herr Kalbitzer, was ist Stress?

Stress ist ein Zustand der Anspannung, in dem das Gehirn Hormone wie Adrenalin und Cortisol ausschüttet. Er kann nützlich sein, wenn man sich konzentrieren muss. In der Steinzeit war das beispielsweise bei der Jagd der Fall, heute bei Deadlines. Stress ist also weder positiv noch negativ, Stress war schon immer da.

Wann wird das zum Problem?

Wenn Stress zum Dauerzustand wird. Bei manchen können das Wochen sein, bei anderen Jahre. Dass er zum Problem wird, bemerken Sie, wenn Sie zum Beispiel sarkastischer werden. Oder wenn Sie das Gefühl haben, sich anzustren­ gen, ohne dafür genug positives Feedback zu bekommen. Manche bekommen auch körperliche Symptome wie einen verspannten Rücken oder eine ausbleibende Periode. Dauer­ hafter Stress schleicht sich oft ein, denn Stress ist ja nicht nur negativ. Er macht auch Spaß, weil er sozial belohnt wird. Wenn Sie den Kollegen sagen: »Ich bin so gestresst!«, sig­ nalisieren Sie auch: Ihre Fähigkeiten sind gefragt.

Warum habe ich das Gefühl, dass Stress seit Corona zugenommen hat?

Stress entsteht meistens bei zusätzlicher Belastung oder bei Umstellungen. Die aktuelle Lage bedeutet beides. Für viele fällt mehr Arbeit an. Außerdem müssen wir anders arbei­ ten, als wir es gewohnt sind, wir sitzen am Küchentisch bei Zoom statt am Schreibtisch im Büro. Dabei ist es wichtig, nicht in diesen Modus zu geraten: »Ich versuche noch ein, zwei Monate durchzuhalten, und danach wird alles wieder normal.« Die Pandemie kann auch eine Chance sein: Sie hat gelernte Verhaltensweisen unterbrochen, die wir jetzt neu anpassen können.

Wie lerne ich, mit digitalem Stress umzugehen?

Sie sollten versuchen, Arbeit und Privates auch im Home­ office zu trennen und nur auf einem Gerät zu arbeiten, auf dem Laptop zum Beispiel. So bleibt das Smartphone frei von Arbeit. Wer das nicht trennen kann, sollte alle Benach­ richtigungen, die mit Arbeit zu tun haben, spätestens am Abend ausschalten. Viel Stress, gerade für Berufseinsteiger wie Sie, hat auch mit überzogenen Erwartungen an den Job zu tun. Es hilft generell, die runterzuschrauben.

Wie klappt das?

Indem man akzeptiert, dass Unsicherheiten zum Leben ge­ hören, und man lernt, sie auszuhalten. Dabei kann es helfen, wenn Sie sich zum Beispiel mit älteren Menschen unterhalten oder mit Menschen, die schon eine Krise erlebt haben. Da werden Sie schnell bemerken, dass denen in schweren Zeiten vor allem stabile soziale Beziehungen geholfen haben.

Stimmt, ohne meine Freunde wüsste ich gerade nicht, wie ich durch diese Zeit kommen würde. Trotzdem fällt es mir schwer, die Unsicherheit auszuhalten. Mein Job ist zwar si­cher, aber im Sommer war auch ich ein paar Monate in Kurz­arbeit. Und ich kenne genug Freunde, die gerade erfolglos auf Jobsuche sind oder deren Nebenjobs in Cafés gekündigt wurden. Je länger diese Pandemie dauert, desto krasser finde ich, dass wir an vielen Tagen einfach weiter funktionieren. Obwohl täglich Menschen an Covid­-19 sterben und wir nicht wissen, wann es endlich vorbei sein wird. Trotzdem wie immer zu arbeiten und halbwegs optimistisch zu bleiben ist deswegen alles, aber ganz bestimmt nicht normal.

DIE HILFSMITTEL

Weil ich meinen Stress nicht einfach abschalten kann, möch­ te ich Produkte testen, die versprechen, dabei zu helfen. Zum Beispiel eine Tageslichtlampe. In meinen Insta­Storys teilen viele gerade Fotos davon. Ihre Wirkung ist erwiesen, in der Psychotherapie werden sie unter anderem bei Depressionen eingesetzt, weil sie Licht in der Farbtemperatur von Tages­ licht abgeben. Wie Sonnenlicht hilft das dem Körper, das Gleichgewicht zwischen Melatonin, dem Schlafhormon, und Serotonin, dem Glückshormon, zu halten. Die Tageslicht­ lampe ist eine Sonne für zu Hause, sozusagen.

Mein klobiges Modell von Beurer, dem Marktführer der Tageslichtlampen, macht mir ästhetisch erst mal keine gute Laune, das grelle Licht blendet. Ich schicke meiner Chefin ein Foto. Sie schreibt: »Haha, morgen fühlst du dich wie nach einem Kurzurlaub auf Madeira.«

Die Lampe bräunt natürlich nicht, aber sie hilft mir, mit so etwas wie guter Laune in den Tag zu starten und mich nicht um 16 Uhr wieder hinlegen zu wollen. Ich gewöhne mir an, mich morgens eine halbe Stunde lang beleuchten zu lassen und dabei unwichtige Dinge zu erledigen, Twittern oder Föhnen. Am Nachmittag leuchte ich mich mit der Lampe in Videokonferenzen aus. Eine Kollegin sagt bald: »Du siehst irgendwie frisch aus.« Auch solche Komplimente entspannen.

Als Nächstes bestelle ich mir eine neun Kilo schwere Gewichtsdecke von Levia. Sie soll laut Hersteller Stress ab­ bauen, indem sie meinen Schlaf verbessert. Eine schwedische Forschergruppe schrieb im Journal of Clinical Sleep Medicine, dass das funktionieren könne: 78 Prozent der Testpersonen berichteten vom Rückgang der Schlafstörungen, nachdem sie ein Jahr unter der schweren Decke schliefen. Sie hätten sich beschützt und getröstet gefühlt.

Meine erste Nacht fühlt sich eher an wie unter einer dieser Bleiwesten, die man beim Zähne­Röntgen tragen muss. Nach drei Tagen bin ich aber davon überzeugt, mich weniger im Schlaf zu bewegen und ausgeruhter aufzuwachen. So aus­ geruht und entspannt, dass ich fast nicht aufstehen möchte.

Das ist schlecht, weil mittlerweile die Arbeit, na ja, zu stressen beginnt. Deswegen beschließe ich, auch noch Cannabidiol kurz CBD, zu testen. Das sehe ich auch seit Monaten immer wieder in meinen Insta­Storys, zum Beispiel bei der Autorin Margarete Stokowski. Der Wirkstoff wird viel diskutiert. Die entspannende und schmerzlindernde Wirkung von CBD wurde in mehreren Studien klinisch bewiesen, einige Verbraucherzentralen warnen trotzdem, dass nicht alle Risiken geklärt seien. Ich bestelle Öl, Gras und Tee bei Magu­CBD aus Wien, die vor vier Jahren das erste CBD­Start­up in der EU waren. Sofie Sagmeister und Juri Scotland, beide Anfang 30, sind zwei der drei Gründer.

Sofie und Juri, was genau ist CBD?

Juri: CBD ist ein Molekül, das THC ähnelt, aber nicht psy­ choaktiv wirkt. Man wird also nicht high davon, kann aber auch keine Paranoia bekommen. CBD lindert psychischen Stress, weil es das Endocannabinoid­System unterstützt. Das ist ein Mechanismus unseres Körpers, der unter anderem den Umgang mit Stress reguliert. CBD stärkt dieses System, und man nimmt Stress nicht mehr als Belastung wahr.

Sofie: Das wirkt wie eine urgute Massage, die dich total ent­ spannt. Nur dass du dabei nicht müde wirst, sondern dich konzentrieren kannst, weil dein Kopf mit massiert wurde.

Trotzdem warnen Verbraucherzentralen, es sei noch nicht geklärt, wie riskant CBD tatsächlich sei.

Sofie: Ein Expertenrat der WHO hat vor zwei Jahren alle Studien durchgearbeitet. Er kam zu dem Schluss, dass es kein Abhängigkeitspotenzial hat. Man kann also getrost jeden Tag CBD­Tee trinken, Öl schlucken, Blüten rauchen. Juri: In sehr hohen Dosen kann eine sogenannte De-confusion auftreten. Das ist ein Prozess, in dem der Kopf so entspannt, dass man unglaublich fokussiert ist, die Gedanken aber auch ein bisschen langsamer werden. Der Effekt ist aber meistens gewünscht.

Seit der Pandemie erlebt CBD einen Hype. Wie erklärt ihr euch das?

Sofie: Viele sind gestresst, weil sie bei der Arbeit nur noch in Videokonferenzen hängen, ihre Familien und Freunde nicht sehen können und im Alltag Angst haben, sich anzustecken. Damit versucht jeder irgendwie umzugehen. Wir haben viele Rückmeldungen von Kunden bekommen, dass ihnen CBD gerade dabei hilft, abzuschalten.

Juri: Bei uns bestellen auch viele Pfleger und Ärzte. Manche schrieben, dass sie überfordert, gestresst, ängstlich seien. Wir haben deshalb im April 1000 Flaschen wasserlösliches CBD an systemrelevante Berufsgruppen verschenkt.

Was tut ihr gegen Stress?

Sofie: Ich mache Sport und nehme CBD, noch bevor Stress oder die unangenehmen Gedanken einsetzen. Nach unserer Gründung standen wir ein paarmal vor dem Aus. Es gab Auflagen, die sich innerhalb von Wochen veränderten, Ware, die beschlagnahmt wurde. Dieses Auf und Ab hat uns gegen Stress resistenter gemacht.

Juri: Was glaube ich wichtig ist: Wir sehen einen Sinn in dem, was wir tun. Wir wollen mit CBD die Gesundheit vieler verbessern. Das hilft auch dabei, nach Rückschlägen weiterzumachen.

Am Abend gieße ich mir einen CBD­Tee auf: zwei Teelöffel Hanfblüten, ein bisschen Kokosfett, um das CBD zu lösen, fertig. Ich fühle mich entspannt wie lange nicht. Die Unruhe, die ich an manchen Tagen fühle, scheint verschwunden. Als würde mich jemand von innen zudecken.

Von diesem Gefühl ergriffen, vergesse ich fast das ei­ gentliche Problem: Warum muss es mir gerade überhaupt so gehen? Sollte ich mich nicht um die Ursachen des Stresses kümmern, statt mich mit den Symptomen rumzuschlagen? Und wie absurd ist es eigentlich, dass Unternehmen mit dem Versprechen Geld verdienen, uns endlich diesen Stress zu nehmen? Denn selbst wenn eine Lampe, eine Decke oder Tee bei mir funktionieren, sind es doch auch die Umstände, die sich ändern sollten. Und das kann bei jedem anders sein: Ich habe für diesen Text mehr Zeit, das hilft. Bei Studierenden, homeschoolenden Eltern oder Künstlern braucht es auch Lösungen der Politik. Ja, wir leben in einer Pandemie, aber auch deren Folgen kann man eindämmen.

DIE ENTSPANNUNG

Eine, die gerade viel Stress damit hat, anderen Stress zu nehmen, ist Clara Welteke, 33. Sie ist Referentin im Bundes­finanzministerium und gehört zur Corona­Task­Force. Sie überlegte sich Konzepte für die Hilfen für Künstler, Kultur­ schaffende und kulturelle Einrichtungen.

Während ihr im Team an einem Hilfsprogramm gefeilt habt, warteten Hunderttausende auf Gelder. Wann war es für dich am stressigsten?

Als ich im Dezember angefangen habe, war es für mich am stressigsten, weil mir da die Verantwortung bewusst wurde. Wir in der Corona­Task­Force kommunizieren mit den verschiedenen Abteilungen im Finanzministerium und stimmen unsere Vorschläge mit dem Bundeswirtschafts­ ministerium ab. Außerdem erreichen uns täglich E­Mails von Betroffenen und Verbänden. Da wird noch mal klar: Das, was wir machen, hat ganz reale Auswirkungen, mit den Hilfsmaßnahmen werden viele Existenzen gerettet.

Wie hat sich das auf deine Arbeit ausgewirkt?

Normalerweise arbeite ich so achteinhalb Stunden am Tag plus Pausen. In den vergangenen Wochen waren es eher elf Stunden und kurze Pausen, aber das war okay. Ich weiß, wie wichtig unsere Arbeit gerade ist, da mache ich jetzt nicht um 18 Uhr Feierabend. Sondern ich setze mich noch mal hin und gehe sicher, dass ich alles richtig berechnet und an alle Details gedacht habe.

Was machst du gegen Stress?

Ich habe mir angewöhnt, Nachrichten eher morgens zu lesen, damit ich mir beim Einschlafen keine Gedanken über die Infektionszahlen mache. Im Team haben wir in Video­ und Telefon­Konferenzen außerdem offen darüber gesprochen, wie es uns wirklich geht. Dazu gehörte auch, sagen zu können: »Ich bin gerade mit einer Aufgabe über­ fordert, ich brauche Unterstützung.« Man muss nicht alles alleine erledigen, wenn man ein Team hat. Ich habe gelernt, zu priorisieren, immer wieder To­do­Listen zu schreiben und die Arbeit in so kleine Stücke aufzuteilen, dass man sie bewältigen kann. Und Spaziergänge durch den Garten des Bundesfinanzministeriums haben mir auch geholfen.

Clara ist dem Stress damit intuitiv so begegnet, wie es mir auch der Stressmediziner Jan Kalbitzer empfohlen hat. Wer sich ausreichend bewegt und soziale Kontakte pflegt, braucht eigentlich keine Lampen, Decken oder Tees. Das klingt banal, aber es hilft, sich in der Pandemie immer mal wieder daran zu erinnern, dass sich Arbeit gerade nicht wie immer anfühlt. Und dass es ganz schön krass ist, wie wir in diesem Ausnahmezustand funktionieren.

Ich muss diesen Text in der zweiten Januarwoche abgeben. Zu der Zeit also, als die Bundesregierung den Lockdown verlängert und bei uns die stressige Phase beginnt. Ich sitze wieder in meiner Küche. Diesmal aber nicht im Pyjama, sondern in meinem Orca­Pullover. Geschlafen habe ich unter der Neun­Kilo­Bettdecke, neben mir stehen die Tageslicht­ lampe und eine Tasse mit CBD­Tee. Was mir aber wirklich hilft, sind die Umstände, die sich geändert haben: Ich habe nicht nur fünf Stunden, sondern drei Tage Zeit, den Text fertig zu machen. Außerdem habe ich bei Slack die Benach­ richtigungen ausgestellt. Ich sehe jetzt nur noch, was dort passiert, wenn ich am Laptop sitze und das Programm auf­ rufe. Nachmittags schreibt mir meine Chefin: »Wie ist die Stimmung? Abgabe morgen, zehn Uhr?« – »Ja«, schreibe ich. Um 22 Uhr ist der Text noch nicht fertig. Ich öffne die Balkontür und atme tief ein. Wird schon irgendwie.