Akte A5379 / DIE ZEIT / September 2019
Die Stasi überwachte sie, sie verliebte sich in einen Westdeutschen: Die Mutter unserer Autorin floh mit 26 aus der DDR. Jetzt bereisten sie gemeinsam die Route von damals
Sie schleichen sich durch den dunklen Wald. Ich halte es keinen Tag mehr aus, hatte sie ihm oben auf dem Hügel in Zánka gesagt, dem Dorf am Plattensee. Bis hierhin, an die Grenze zur Republik Österreich, waren sie jetzt gemeinsam gekommen. Fast geschafft. Die beiden Soldaten bemerkt das Paar erst, als sich zwei Gewehre auf sie richten.
„Überleg dir mal, wie blöd wir waren“, sagt die junge Frau aus dem Wald heute. Damals war sie 26, heute ist sie 56 Jahre alt: meine Mutter. „Alleine hätte ich mich nicht getraut“, sagt sie, die Hand am Steuer unseres Opel Corsa. Wir fahren über die M87 Richtung ungarisch-österreichische Grenze. Wir wollen den Weg von damals noch mal gehen, ihre Fluchtroute im Jahr 1989, von Berlin nach Budapest über Zánka nach Wien bis Freilassing in Bayern. Meine Mutter hat die Szene aus dem Wald schon öfter erzählt, meist auf Familienfesten. Eine Anekdote, die zur größeren Erzählung meiner Familie gehört und derer wir uns nicht oft genug versichern können: dass unsere Familie ohne den Mauerfall nicht existierte. Dass ich nicht existierte.
Ich bin ein Nachwendekind, 1991 in Niedersachsen geboren. Vielleicht ist es eine Frage des Alters, dass ich mich jetzt für die Lebensgeschichte meiner Mutter zu interessieren beginne – also ihre Geschichte, bevor es mich gab. Es kann auch an den Debatten liegen, die seit ein paar Jahren über die „ostdeutsche“ Identität geführt werden: Mein Blick auf meine Mutter jedenfalls hat sich geändert. Seit „Ostdeutschland“ zum politischen Begriff wurde, habe ich angefangen, auch meine Mutter als Ostdeutsche zu sehen.
Vor zwei Jahren habe ich sie das erste Mal gefragt, ob sie diese Reise mit mir machen wolle. Da hat sie noch gezögert, das alles sei so lange her. Aber jetzt, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, würde sie es schon interessieren, „wie es da nun überall aussieht“. Vor ein paar Wochen trafen wir uns in Berlin, nahmen von dort das Flugzeug nach Budapest, wie sie damals.
Am 28. Mai 1963 wird Beatrix Müller in Eisenhüttenstadt geboren, Mutter OP-Schwester, Vater Kranführer. Die ersten Jahre ihres Lebens wohnt Beatrix mit Bruder, Mutter, Vater, Großmutter und Uroma im Plattenbau. Im Jahr 1975 zieht die Familie in ein Einfamilienhaus. Regelmäßig treffen Pakete der Westverwandtschaft ein, ihre Großmutter hatte die DDR vor dem Mauerbau verlassen. Die Levis-Jeans trägt Beatrix mit Stolz, auch wenn sie das Etikett abknibbeln muss.
Die Stasi über meine Mutter als junge Frau, Akte A5379: „Die finanzielle Lage der M. ist als normal anzusehen. Es wird eingeschätzt, dass ein großer Teil der Kleidung aus dem NSA [nichtsozialistischen Ausland] stammt und in der DDR nicht käuflich zu erwerben ist. Moralische Schwächen und Alkoholprobleme sind nicht bekannt. Gegen die Genehmigung der Reise könnte sprechen: es ist nicht bekannt, wie sie auf eine negative Beeinflussung reagiert.“
Bevor ich meine Mutter in Berlin treffe, besuche ich meine Großeltern, ihre Eltern. Sie leben noch immer in dem Einfamilienhaus in Hütte, wie man hier sagt. „Sie hatte ja schon immer ihren eigenen Kopf“, sagt meine Großmutter in brandenburgischem Dialekt. Aufhalten wollte sie die Tochter nicht. „Auch nicht, als sie meinte, vielleicht sehen wir uns jetzt fünf Jahre nicht, Mama“, sagt sie. Ich sehe, wie sich in ihren Augen Tränen sammeln.
Wolltet ihr denn nicht weg?, frage ich. „Nein“, sagen beide. Meine Großeltern waren stolz auf ihr Haus, ihre Arbeit und das bisschen Luxus, das ihnen die Westverwandtschaft ermöglichte. Zu ihrer Hochzeit 1962 hatte die ihnen Goldbrocken ins Milchpulver gesteckt, aus denen sie sich ihre Eheringe schmieden ließen. Später kamen Kakao, Kaffee und Kosmetik dazu.
In Eisenhüttenstadt leben noch 25.000 Menschen, halb so viele wie 1990. Von ihnen sind 60 Prozent über 65 Jahre alt. Ganze Straßenzüge sind verwaist. Doch meine Großeltern leben gern in Hütte. Die Freilichtbühne, die Wälder, die Nähe zum Fluss. Etwas anderes ärgert meine Großeltern. „Derzeit liegt unser Rentenwert bei 96,5 Prozent des Westniveaus“, sagt meine Großmutter auf die Nachkommastelle genau. Es mag nicht mehr viel sein und doch genug, um sich gekränkt zu fühlen. Erst im Jahr 2024 soll die „Renteneinheit“ vollzogen werden. Für meine Großeltern wird das der eigentliche 3. Oktober. Sie werden 85 und 83 Jahre alt sein.
Beatrix hat Deutsch und Russisch studiert und arbeitet als Lehrerin. Wenn schon DDR, dann wenigstens Berlin, sagt sie sich. Um dort eine Zweizimmerwohnung zugeteilt zu bekommen, fragt sie einen Bekannten, ob er so tun könne, als wollte er sie heiraten. Nach ihrem Einzug meldet sie sich bei ihrer Arbeit zum Schein krank, Liebeskummer, die Verlobung ist leider geplatzt. Sie zieht allein in die Wohnung. System erfolgreich ausgetrickst.
Im Sommer 1988 fragt ein Freund sie: Kannst du für mich jemanden aus der BRD unterbringen? Ich habe ihn in Prag kennengelernt, er hat mir Geld geliehen. Sie verliebt sich sofort in Hans-Heinrich aus Westdeutschland, groß gewachsen, blaue Augen. Sie feiern das Wochenende durch. Eine Westmark tauscht der neue Freund auf dem Schwarzmarkt gegen zehn Ostmark, ein Bier kostet 40 Pfennig.
„Das war vielleicht die schönste Zeit meines Lebens“, sagt meine Mutter, „eine Zeit lang hatten wir hier ja alles. Geld. Partys. Unsere Jugend.“
„Hansi kommt“, schreibt Beatrix immer öfter in ihren Kalender. Beatrix und Hans-Heinrich sind ein Paar. Der Fluchtgedanke wird konkreter.
„Weil ich mir nicht auch noch vorschreiben lassen wollte, wie ich meine Beziehung zu führen habe“, sagt sie heute. Sie hätte meinen Vater heiraten müssen, um mit ihm zusammenzuleben. „Aber ich wollte nicht heiraten!“
Das Westfernsehen berichtet von DDR-Bürgern, die über Ungarn nach Westdeutschland fliehen. Beatrix überlegt, wie es gehen könnte: erst mal so tun, als würden sie Urlaub am Plattensee machen, dann zur westdeutschen Botschaft, dort einen Pass beantragen. Beatrix bucht einen Flug nach Budapest und notiert am 28. August 1989 im Kalender: „9.00 ab Schönefeld, 10.50 an Budapest“. In ihr Tagebuch schreibt sie quer über den Monat September „BRD forever!“.
„Dobro pozhalovat“, sagt meine Mutter, als wir am Gepäckband am Budapester Flughafen stehen. „Russisch für ‚Herzlich willkommen‘, das kann ich noch“. Es ist lange her, dass ich sie Russisch sprechen hörte. Normalerweise will sie nicht. „Ich hätte so gern Englisch gelernt. Aber das war für die DDR die Sprache des Feindes“, sagt sie.
Beatrix und Hans-Heinrich kommen in Siofok am Plattensee an. Ihr Freund Michael ist auch dabei, ein Judoka aus Luckenwalde, er hat die Anabolika über, die ihm seine Trainer verabreichten. Die drei verbringen ein paar Tage am Wasser, baden, sonnen, dann fahren sie am 4. September 1989 mit dem Auto nach Budapest in die Úri u. 64, Residenz der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben für ein paar Tage eine etwas heruntergekommene Altbauwohnung in Budapest am Vörösmarty-Platz gemietet, fünf Minuten von der Donau entfernt. Mit dem Bus fahren wir auf den Burgberg. Hier befindet sich die Fischerbastei, das Wahrzeichen Budapests. „Oh Mann, da ist jetzt ein Starbucks drin“, sagt meine Mutter. Wir gehen weiter zur deutschen Botschaft, gleich in der Nähe. Im September 1989 wurde meine Mutter hier an der Tür abgewiesen. Zu voll, hieß es damals. „Ich dachte, das war’s jetzt.“
Ich rufe Christian Much an, von 1988 bis 1989 Konsul in der Budapester Botschaft. „Ich wäre an dem Druck, der auf mir lastete, fast zerbrochen“, sagt er. „Im Mai 1989 begann es, dass immer mehr DDR-Bürger in die Botschaft strömten und irgendwann auch nicht mehr gingen.“ Im August war die Botschaft so voll, dass Much nach Unterbringungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge suchte, erst Privatwohnungen, dann Freizeitlager.
Much befragte die Leute nur noch in Gruppen nach ihren Fluchtgründen: Werden Sie politisch-weltanschaulich verfolgt, oder fliehen Sie aus wirtschaftlichen Motiven? Ersteres war ein Asylgrund, Letzteres nicht. „Die Verantwortung, ob jemand wegen meiner Entscheidung in Haft kommt, trug ich mit dem Wort Ja oder Nein.“ DDR-Bürger, die aus Budapest nach Hause zurückkehrten, riskierten wegen des Fluchtversuchs langjährige Gefängnisstrafen. Das Regime der DDR hatte Spitzel in eine Wohnung gegenüber der Botschaft einziehen lassen. Sie versuchten, jeden zu fotografieren, der Zuflucht gesucht hatte.
Beatrix, Hans-Heinrich und Michael fahren zurück Richtung Plattensee, in der Botschaft hat man sie an das Flüchtlingslager für DDR-Bürger in Zánka verwiesen. Wenn’s bald nichts wird, feiern wir einfach Weihnachten hier, sagt Beatrix zu Hans-Heinrich, der sich verabschiedet. Er will sie zu Hause in Niedersachsen erwarten.
Im Flüchtlingslager schläft Beatrix warm, ihr Bauch ist voll. Es macht ihr nur Angst, dass Stasi-Mitarbeiter Flugblätter über den Zaun werfen. Darauf Appelle, dass ihnen nichts passiere, wenn sie jetzt zurückkehrten. Dass sie nach Kőszeg, der Grenzstadt zur Republik Österreich, fahren, beschließen Michael und sie spontan. Sie wollen nicht länger auf „die politische Lösung“ warten, die sich bereits ankündigt, wie es unter den Flüchtlingen heißt. Sie will nicht mehr den ganzen Tag nur schlafen, essen, nichts tun. Lass uns gehen, Michael. Jetzt. Sofort.
Mitkommen!, rufen die beiden ungarischen Soldaten auf Deutsch, als sie die Gewehre auf Beatrix und Michael im Wald von Kőszeg richten. Auf der Wache reichen sie ihnen Kaffee, Kekse und ein Rückfahrticket nach Zánka. Beatrix schreibt in ihr Tagebuch: „8. September: Fluchtversuch gescheitert“.
Am 11. September beschließt die ungarische Regierung ohne Absprache mit Ost-Berlin, die Grenze zu öffnen. Christian Much verkündet die Entscheidung im Lager Zánka.
„Ich hatte nicht zu Ende gesprochen“, erinnert Much sich, „da begannen die Menschen schon zu jubeln, zu weinen, zu schreien.“
Die Einwohner von Zánka strömen, bepackt mit Weinflaschen und Kerzen, ins Lager. Eine große Party für die Flüchtlinge. Am nächsten Tag brechen Beatrix und Michael Richtung Wien auf. Am Stephansdom suchen sie nach einer Telefonzelle. Beatrix ruft ihre Großmutter in West-Berlin an: „Das Paket ist angekommen.“
Nur wenige Tage später weiß das Regime Bescheid. Beatrix’ Eltern werden aufs Polizeipräsidium bestellt. Doch es geht nur der Vater, die Mutter hat zu viel Angst. Er wisse nicht, wo Beatrix sei, lügt er.
Beatrix erreicht am Abend des 12. September das Aufnahmelager in Freilassing, 200 Menschen auf dem Gelände eines Freibads. Am Eingang begrüßt sie ein älterer Herr. Möchten Sie einen Russen?, fragt er Beatrix und reicht ihr ein Weizenbier mit Limonade. Beatrix lacht. Vom Russen habe ich genug, sagt sie.
Seit meine Mutter bayerischen Boden betrat, besitzt sie eine Sozialversicherungsnummer. Freilassing ist wie ein zweiter Geburtsort. Wir spazieren über die grüne Wiese des Freibads. Sie hatte ein Feldbett, davor lag ein kleiner Teppich. Daran könne sie sich erinnern. „Das hat es irgendwie gemütlich gemacht, und ich fühlte mich willkommen“, sagt sie.
Johann Spitzauer, damals 36, heute 66 Jahre alt, baute die Mannschaftszelte und Hunderte Feldbetten auf. Noch immer trägt er eine Uniform des Technischen Hilfswerks. Wir stehen auf dem Parkplatz vor dem Schwimmbad. „Da war doch ein kleiner Teppich vor meinem Feldbett“, erzählt meine Mutter auch ihm noch einmal. „Ja“, sagt Spitzauer, „die lokale Bevölkerung brachte alles, was sie entbehren konnte.“ Meine Mutter nickt. „Wir hatten wenig Zeit“, sagt Spitzauer. Dass Tausende Flüchtlinge kommen würden, hätten sie erst ein paar Tage vor dem 11. September vom Deutschen Roten Kreuz erfahren. „Danke für die Reise in die Vergangenheit“, sagt meine Mutter zu Johann Spitzauer. Sie umarmen sich zum Abschied.
„Im Durchschnitt sind die Menschen, die der DDR den Rücken gekehrt haben, nicht älter als 27 Jahre“, meldet die „Tagesschau“ am 12. September 1989. Beatrix bleibt nur eine Nacht in Freilassing, fährt weiter zu Hans-Heinrich nach Südniedersachsen. Familie Meyer zu Eppendorf begrüßt sie auf ihrem Bauernhof. Auf der Dorfkirmes gewinnt sie ein paar Wochen später eine Reise nach Lloret de Mar.
Ihre DDR-Lehrerausbildung sei ideologisch, erfährt meine Mutter, im Westen angekommen. Und Russisch kein Regelfach. Meine Mutter schult also, während sie mich stillt, zur Reiseverkehrskauffrau um und studiert ein zweites Mal, diesmal Touristik und BWL, um schließlich Berufsschullehrerin zu werden. Den Brandenburger Dialekt gewöhnt sie sich ab.
Am 11. März 2003 wird Beatrix vom Bundesland Hessen als Lehrerin auf Lebenszeit verbeamtet.
Vor zwei Jahren bewarb sich meine Mutter auf eine Leitungsposition als Oberstudienrätin an ihrer Berufsschule. Ihr Schulleiter hatte sie dafür vorgeschlagen, sie war die einzige Bewerberin. Nach ihrer Prüfung teilte ihr ein Mitarbeiter des Schulamts mit, dass sie die Voraussetzungen nicht erfülle. Ihr fehle das zweite Staatsexamen. Sie müsse noch mal studieren, ein Referendariat machen. „Schwachsinn“ nennt meine Mutter das.
Es ist wie mit den 3,5 Prozentpunkten, die meinen Großeltern zur vollen Anerkennung fehlen. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall gereicht es einem zum Nachteil, in der DDR gelebt zu haben. Wahrscheinlich eine Typfrage, ob man sich der Kränkung hingibt oder nicht. Ich glaube, meine Mutter ist stolz darauf, was sie überstanden hat, wie sie sich durchgeschlagen hat. Ihr Leben ist ein Trotzdem.