»Die Chance etwas zu finden, das groundbreaking ist, beträgt maximal ein Prozent«

Große Erwartungen / ZEIT Campus / Februar 2020

Luis, 8, und Josefine, 7, haben eine seltene Krankheit, die ihr Leben bedroht. In Wien versuchen Genetiker den Kindern zu helfen. Wie viel Hoffnung verträgt die Wissenschaft?

Die Stammzellen der Mutter schimmern unter dem Mikroskop dunkelrot, während die ihres Sohnes verenden. Eigentlich kein Bild, über das man sich freuen kann. Doch der Kanadier Devon Germain, 34, Postdoktorand an der Medizinischen Universität Wien, wirkt zum ersten Mal seit Wochen zufrieden. Sein Experiment war zuvor zum Erliegen gekommen, keine einzige Stammzelle hatte mehr zu einer Blutzelle heranreifen wollen. »Aber so ist das in der Wissenschaft. 90 Prozent der Experimente gehen schief«, sagt er.

Devon Germain betreibt Grundlagenforschung, das heißt, dass seine Arbeit eigentlich nicht einfach anwendbar ist. Trotzdem ist sie eng mit der Leidensgeschichte einer Familie verbunden. Eine Familie, die sich danach sehnt, dass ihren chronisch kranken Kindern geholfen wird. Wie viel Hoffnung verträgt die Wissenschaft?

Luis Marte, dessen Stammzellen unter dem Mikroskop nur schwer erkennbar sind, kam als schwaches Baby auf die Welt. Er trank kaum, und nach sechs Wochen war sein Körper so blass, dass seine Eltern Marianne und Boris Marte mit ihm zum Kinderarzt fuhren. Der vermutete etwas am Herzen, fand aber nichts und schickte die Familie wieder nach Hause.

Dann der Anruf: »Fahren Sie sofort ins Krankenhaus!« Der Kinderarzt hatte bei Luis einen Hämoglobin-Wert von 3,6 festgestellt, normal ist 12 bis 16. Hämoglobin ermöglicht den lebenswichtigen Sauerstofftransport im Körper. Hätte Luis nicht in derselben Nacht noch eine Bluttransfusion erhalten, wäre er wohl gestorben. Wochen später dann die Diagnose: Luis leidet an der Diamond-Blackfan-Anämie (DBA), einer sehr schweren und seltenen Form der Blutarmut. Weltweit sind gerade mal 5000 Betroffene registriert, statistisch gesehen erkranken nur fünf aus einer Million.

Etwa ein Jahr nach der dramatischen Nacht im Krankenhaus bekam Marianne Marte ein zweites Kind, dieses Mal ein Mädchen. Josefine war, anders als ihr Bruder, ein starkes Baby mit rosigen Wangen. Niemand hatte damit gerechnet, dass auch sie DBA haben könnte. Sie ließen Josefine trotzdem testen. Positiv.

Seitdem sind Luis, 8, und Josefine, 7, im St. Anna Kinderspital in Behandlung. Viele Kinder bekommen schon Schreikrämpfe, wenn sie geimpft werden. Luis und Josefine müssen alle drei Wochen zum »Stechen« gehen. So nennen sie es, wenn sie sich von einer Nadel piken und drei bis vier Stunden lang rund 300 Milliliter fremdes Blut in ihre Adern pumpen lassen.

Bei einem Termin Ende des vergangenen Jahres habe Josefine , so erzählt es ihre Mutter, stundenlang die Arme verschränkt. »Wo sitzt die Angst?«, fragte Marianne Marte dann. »Im Bauch«, antwortete Josefine. Und ihr Vater Boris Marte, der einst in Paris eine Ausbildung zum Pantomimen machte, schob die Angst mit seinen Händen aus Josefines Bauch und aus dem Kinderkrankenzimmer heraus.

»Jede Transfusion ist für die Kinder ein emotionaler Ausnahme- zustand«, sagt Marianne Marte, die ihren Job in der Direktion am Wiener Burgtheater längst aufgegeben hat. Damit die Kinder das Eisen aus dem fremden Blut abbauen können, nehmen sie täglich Tabletten. DBA bedeutet, lebenslang abhängig zu sein, von Ärzten, Blut und Medikamenten.

Kurz nach Josefines Geburt bemerkten die Martes etwas, das sie irritierte. Gen-Tests aller Familienmitglieder zeigten, dass beide Kinder die Krankheit von ihrem Vater geerbt hatten. Auch er trägt die DBA-Genmutation in sich, ist selbst aber gesund. Die Familie wunderte sich, fragte bei Ärzten und auf DBA-Konferenzen nach, doch lange hörte ihnen niemand richtig zu, sagen sie.

Vor zwei Jahren schrieben sie deshalb dem Genetiker Josef Penninger. Der ist auch Österreicher und leitete lange das Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie, bis er 2018 an die renommierten University of British Columbia in Vancouver wechselte. Er publizierte in den wichtigsten naturwissen- schaftlichen Journals, in Nature und Science. Unter Genetikern gilt er als Koryphäe.

Beim ersten Treffen mit Penninger habe dieser sofort eine These ge- habt: Boris Marte könnte so etwas wie ein genetischer Superheld sein. Einer, wie es ihn unter rund 600.000 Menschen nur 13 Mal gibt. »Genetisch resilient«, wie es Genetiker ausdrücken, weil sich in seiner DNA vermutlich ein weiteres verändertes Gen befindet, das ihn davor schützt, selbst an DBA zu erkranken. »Wir schauen uns das an!«, habe Penninger gesagt und ein Team zusammengestellt: Devon Germain, der als Doktorand am kanadischen Cross Cancer Institute Alberta das DDX1-Gen in Brust- und Augenkrebs untersuchte und vor drei Jahren nach Wien zog, und Bianca Gapp, 33, die in ihrer Doktorarbeit Me- thoden entwickelte, um die Funktionen von Genen besser zu verstehen.

Im Labor der Medizinischen Universität in Wien, etwa sieben Kilometer vom Kinderspital entfernt, erklärt Devon Germain geduldig wie ein Bio-Lehrer die Grundlagen der Genetik: Die Bausteine des menschlichen Lebens sind die Stammzellen. Aus ihnen kann jede andere Zelle des Körpers entstehen: Hautzellen, Hirnzellen, Leberzellen. Bei DBA verhindert eine Genmutation die Produktion funktionierender roter Blutzellen im Knochenmark, darum erblassen Luis’ und Josefines Zellen auch in der Petrischale. Wenn keine roten Blutkörperchen mehr gebildet werden, wird unter anderem das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Eigentlich ein Todesurteil.

»Es gibt bislang nur eine Möglichkeit, die Blutzellen der Kinder dauerhaft zu heilen«, sagt er. Weil das Knochenmark defekte Stammzellen produziert, kann man ihr Mark zerstören und es durch das eines gesunden Spenders ersetzen. Doch diese Prozedur ist aufwendig, und die Erfolgschancen liegen für DBA-Patienten nur bei höchstens 90 Prozent. Einer von zehn Menschen stirbt. »Wir hätten sogar einen Spender«, sagt Boris Marte, »aber mit welchem Kind fängt man an?« Marianne Marte erzählt von einem Zwölfjährigen mit DBA, der sich die Transplantation gewünscht hatte. Der Junge starb. »Kann man verstehen, dass sie da lieber auf die Wissenschaft warten, oder?«, sagt Devon Germain.

Vielleicht. Könnte. Vorausgesetzt. Gapp und Germain sind zurückhaltend. »Wenn sich das veränderte Gen von Boris Marte finden ließe, könnte ein Pharmaunterneh- men mit diesen Erkenntnissen vielleicht ein Medikament für seine Kinder entwickeln«, sagt Bianca Gapp. Mit der Methode, die sie dabei entwickelte, könnten irgendwann vielleicht aber auch einige der anderen rund 6000 bislang bekannten Genkrankheiten besser verstanden und behandelt werden. »Vorausgesetzt, die Methode funktioniert«, sagt Gapp.

Dabei bieten ihnen der Fall und die Offenheit der Martes beste Bedingungen und eine einzigartige Chance, auch für ihre Karrieren. Wenn klappt, was sie sich vornehmen, könnten sie wie Penninger in den wichtigsten Journals veröffentlichen und so ihrem Traum, vielleicht einmal Professorin oder Professor zu werden, ein Stück näher kommen.

»An den Martes können wir die Gengeschichte einer kompletten Familie studieren«, sagt Germain. Selbst die Gene der verstorbenen Großmutter von Luis und Josefine konnten durch eine Knochenmark- probe, die noch im Krankenhaus lagerte, untersucht werden. Auch sie hatte DBA-Mutationen, auch sie war gesund. Spezielle Wachs- tumsfaktoren ermöglichen es Germain nun, Haut- oder Blutzellen der gesunden und kranken Familienmitglieder erst zu Stammzellen zu verjüngen und danach zu neuen Blutzellen ausreifen zu lassen. So kann er in der Petrischale quasi jeden Schritt der Blutreife betrachten und jede Heilungsidee ausprobieren, die ihm einfällt. Er kann patho- logische Mutationen entfernen, harmlose einfügen oder so wie gerade ein Medikament testen, das er selbst entwickelt hat. Dieser Versuchs- aufbau ist einzigartig auf der Welt, nirgendwo sonst wird an lebenden DBA-Zellen einer einzigen Familie geforscht.

»Früher kannte ich von Spendern kaum mehr als die Barcodes ihrer Proben«, sagt Germain. Heute trifft er die Martes immer wieder, beim Mittagessen, bei Spendenveranstaltungen, bei Konferenzen. »Wenn dieses Projekt nicht funktioniert, ist es extra schlimm«, sagt Germain, »hier geht es um Menschen, die wir kennen und mögen.«

Er entschied sich deshalb schon im November 2017, den Gewissens- konflikt anzusprechen. Während einer Autofahrt zur europaweiten DBA-Konferenz in Freiburg habe er zu Boris Marte gesagt: »Hör zu, es gibt eine 60-prozentige Chance, dass wir gar nichts finden, und eine 40-prozentige, dass es zumindest etwas Kleines ist, mit dem man weiterarbeiten kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas finden, das relevant für deine Kinder ist, liegt bei vielleicht höchstens zehn Prozent. Und die Chance, dass es wirklich groundbreaking ist, beträgt maximal ein Prozent. Du musst verstehen, dass du nicht erwarten kannst, dass wir deine Kinder heilen können. Denn niemand von uns erwartet das.«

Boris Marte, so erinnert sich Germain, antwortete ihm: »Ist gut. Ich will nur, dass etwas getan wird. Irgendwas.«

Ein wissenschaftlicher Durchbruch, wie es die Heilung einer Gen- krankheit wie DBA sein würde, ist meist nur der letzte Schritt in einer Reihe von kleineren und größeren Erfolgen. Germain will die Krankheit vor allem verstehen. Er wurde Genetiker, weil er gute Lehrer hatte, sagt er. Als er als Bachelorstudent in Molekularbiologie an der University of Alberta einmal in ein Versuchsprotokoll schrieb: »I created this«, strich es ihm seine Professorin durch und sagte: »Only God creates, scientists generate.« Seitdem tilgt er das Wort auch aus den Versuchs- protokollen seiner Studierenden. Forschung lehrt Demut.

»Es kann natürlich sein, dass ein Medikament im Reagenzglas ganz fantastisch funktioniert«, sagt Germain, »und dann testen wir es an einer Maus, und die Maus stirbt.« Die Entwicklung von Arzneimitteln, das betont er immer wieder, braucht zehn, zwanzig, manchmal dreißig Jahre. So sieht die Realität aus. Auch wenn viele Betroffene es sich anders wünschten. Bis Luis und Josefine von der Forschung profitieren können, sind sie also um die 30, 40, vielleicht erleben sie es auch nie. Und vielleicht wird die Heilung auch nicht in Wien, sondern von einer anderen Gruppe von Wissenschaftlern in Australien, den Niederlanden, den USA gefunden. Auch dort wird an DBA geforscht.

Für Forscher wie Germain bedeutet das zwar Wettbewerb, aber keine Konkurrenz. Wenn Forscher in den Niederlanden etwas herausfinden, kann er mit ihren Ergebnissen weiterarbeiten. Auch darauf ist er angewiesen. Seltene Krankheiten gelten als »Waisen der Medizin«, weil Pharma-Unternehmen sich meist nicht für sie interessieren. Grundlagenforschung ist teuer und der zu erwartende Umsatz mit Medikamenten zu gering.

Am Institut für Molekulare Biotechnologie sind die rund 230 Mitarbeiter deshalb ziemlich stolz auf ihr »DBA-Projekt«. Fast jeden Tag laufen sie an der Vitrine mit den Fotos von Luis und Josefine vorbei, auf einem Flyer steht: »Zwei Kinder. Eine Forschungsmission«, und im Atrium des Instituts zeigen drei 1,20 Meter hohe Reagenzgläser jedem Besucher mit roten und weißen Fischfutterpellets den Spendenstand an. Gerade steht er bei rund 600.000 Euro. Das reicht noch für ein Jahr. Für jedes weitere Jahr benötigen sie rund 213.000 Euro für Personal- und Material- kosten. Sie müssen von den Forschern und der Marte-Familie bei Spendenveranstaltungen aufgetrieben werden, auf Dinnern und Weinverkostungen in Wien.

»Die Wachstumsfaktoren, die ich für die Blutreife benötige, kosten zwischen 5000 und 13.000 Euro das Gramm«, sagt Germain. »Deswegen habe ich vor ein paar Monaten günstigere für ein Drittel des Preises gekauft.« Das ist der Grund, warum er wochenlang nur schrumpfende, blasse Zellen unter dem Mikro- skop sah. Erst als er es wieder mit den teuren Wachstumsfaktoren versuchte, begannen Mariannes Zellen zu Blutzellen zu reifen. Die von Luis verkümmerten wegen seiner DBA-Erkrankung wie er- wartet und bildeten keine roten Blutzellen. Das Sparen hat ihn zwei Monate gekostet. »Das erzählt man den Spendern natürlich nicht«, sagt er. Um die Zeit wieder aufzuholen, steht er nun manchmal bis zu 70 Stunden in der Woche im Labor. Im vergangenen Jahr arbei- tete er einmal 90 Tage am Stück. »Bei einem privat finanzierten Projekt kann man mit seiner Arbeitszeit eben auch seinen Anteil leisten«, sagt er.

Die Martes haben Germain vor zwei Jahren ein Stück der Zu- kunft ihrer Kinder anvertraut. »Mehr können wir nicht mehr tun«, hatten sie sich gesagt, »doch allein das hilft uns, in den Schlaf zu finden.«

Vor ein paar Monaten wurde Germain von australischen For- schern gefragt, ob er ihr neues DBA-Medikament auch mal an den Zellen der Marte-Familie testen könnte. Germain wird es tun, sagt er, das mache man in der Wissenschaft so.

Hoffnung kann für den, der sie erfüllen möchte, zur Last werden. Devon Germain belastet sie nicht, er lässt sie wachsen.