Was sein Leben stärker beeinflusste als die Nazis / ZEIT Online / Juli 2019
Wilhelm Simonsohn ist 99 Jahre alt, gerade wurde er geehrt, weil er an Schulen unermüdlich über das Grauen des Krieges aufklärt. Noch mehr aber prägte ihn eine Liebe
Der Krieg ist verloren, aber noch lange nicht vorbei, als Wilhelm Simonsohn im Zug nach Wien sitzt. Es ist erst ein paar Monate her, dass der junge Pilot der Luftwaffe, 25 Jahre alt, sein Flugzeug in eine Baracke steuerte. Der Aufprall zertrümmerte sein Schultergelenk, fluguntauglich für Monate. Um seine Wunden zu heilen, gewährt ihm die Wehrmacht vier Wochen Kur. Im Jahr 1944 braucht Nazideutschland jeden Mann.
In Hannover steigt eine junge Frau zu. In der Uniform des Reichsarbeitsdienstes fällt sie ihm erst nicht weiter auf: Ihre Füße stecken in klobigen Wanderschuhen, ihr Körper ist in einen bodenlangen Mantel aus grauem Tweed gehüllt, auf ihrem Kopf ruht ein schwarzer Hut. Er hievt ihren Koffer in das Gepäcknetz, sie bietet ihm einen roten Apfel an. Sie stellt sich als Elisabeth Mantow vor und nimmt ihren Hut ab, braune Locken fallen ihr ins Gesicht. Simonsohn lächelt.
Fragt man Wilhelm Simonsohn 75 Jahre später im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld danach, was die wichtigste Erinnerung seines Lebens ist, erzählt er von diesem Moment. Er tut es so detailreich, als hätte sich das Treffen erst gestern ereignet, als hätte er Elisabeth Mantow gerade erst kennengelernt, ihre braunen Locken gerade das erste Mal gesehen. „Ich hatte oft Glück in meinem Leben, aber sie war mein größtes“, sagt er. Er sitzt in seiner Wohnung, drei Zimmer, erster Stock, ein Rollator lehnt im Erdgeschoss, einer im Wohnzimmer. Der Fernseher direkt neben ihm. Bis eben lief noch eine NDR-Reportage, mit ihm als Protagonisten: Die Lufthansa-Technik in Hamburg-Fuhlsbüttel hatte ihn Anfang des Jahres die Tante Ju besteigen lassen, ein historisches Flugzeug, Baujahr 1932. Das letzte Mal hatte er darin im zweiten Weltkrieg gesessen, als Flugschüler.
Wilhelm Simonsohn ist einer der letzten Zeitzeugen des zweiten Weltkriegs. In Hamburg starb sein jüdischer Adoptivvater im Jahr 1938 an den Folgen eines KZ-Aufenthalts, in Warschau roch er 1939 die Leichen auf den Straßen, über Belgien schoss ihn 1943 ein englischer Kapitän ab.
Wann immer sich die Bundesrepublik Deutschland ihrer schlimmsten Jahre erinnert, ist Wilhelm Simonsohn, der am 9. September 1919 von einer mittellosen Frau in Hamburg-Altona geboren wurde, ein gefragter Mann. Hamburger Lehrer laden ihn regelmäßig in ihren Unterricht ein. Journalisten regionaler und überregionaler Medien befragen ihn, wenn ein Jubiläum ansteht: Auschwitz-Befreiung im Januar, Hamburger Sturmflut im Februar, Überfall auf Polen im September.
Am 29. August bekam er im Hamburger Rathaus das Bundesverdienstkreuz überreicht. „Im Alter von fast 100 Jahren setzt sich Herr Simonsohn unermüdlich für Demokratie und gegen Krieg, Unrecht und Gewalt ein“, heißt es in der Begründung.
Wilhelm Simonsohn erzählt von Erinnerungen, die manchen als die letzte Waffe gegen jene erscheinen, die über die Nazizeit sagen, sie sei nur ein „Vogelschiss in der gesamtdeutschen Geschichte“ gewesen. Er will nicht, „dass so eine Scheiße noch mal passiert“, wie er sagt. Doch wer ihm länger zuhört, merkt nach einer Weile, dass da neben all dem Leid des Krieges noch eine andere Geschichte gehört werden möchte. Eine, die immer wieder ausbricht, weil sie sein Leben weit mehr geformt hat als die Nazi-Zeit. Es ist die Geschichte über jene Frau, die er damals im Zug kennenlernte.
Er erzählt sie so:
Der Zug rollt in Würzburg ein. Simonsohn muss dort aussteigen, um seinen Anschluss nach Wien zu erreichen. Er hat den Bahnsteig schon fast verlassen, da ruft die junge Frau ihm durch das heruntergeschobene Fenster hinterher: „Herr Soldat, Sie haben Ihre Braut vergessen!“ Sie meint seine Maschinenpistole, die oben noch im Gepäcknetz steckt. Er dreht sich um, rennt zurück, und bleibt im Zug. Gemeinsam fahren sie nach Salzburg, wo er drei Tage mit ihr verbringt. So viel Zeit ist noch, bis die Luftwaffe ihn in Wien erwarten. Als er geht, versprechen sie sich, Briefe zu schreiben, zu telefonieren, wenn es geht. Er nennt Elisabeth nun Liesel, sie ist seine Freundin.
Es dauert kein Jahr, die Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 ist nur noch ein paar Tage entfernt, als Simonsohn auf Liesel vor seinem Flugzeug in der Morgendämmerung wartet. Sie steigen in den Fieseler Storch ein, nur kurz können sie hoch, die Amerikaner beherrschen den Luftraum. Sie fliegen eine halbe Stunde, dann landet Simonsohn in der Nähe eines abseits gelegenen Bauernhofes.
Auf dem Land verbringen sie ein paar Monate, bis sie beschließen, wieder in den Norden Deutschlands zurückzukehren. Drei Wochen schlafen sie in Scheunen und ernähren sich von Brotscheiben und Milch. 132 Kilometer wandern sie ins bayerische Oberpinzgau, Liesel hatte dort noch eine Kiste mit ihren Habseligkeiten untergebracht. Als sie bei einer befreundeten Familie schlafen, verbrennen sie Liesels Exemplar von Hitlers Mein Kampf im Feuerloch des Küchenherdes. Darüber kochen sie sich eine Suppe. „So wurde dieses Werk letztendlich doch noch einem guten Zweck zugeführt“, sagt Simonsohn heute.
Wenn Simonsohn sich erinnert, tut er es mit höchster Präzision. Er weiß den Vornamen, den Nachnamen und den Beruf eines Menschen, auch wenn er ihn 1933 das letzte Mal traf. Er hat sich die Marke der Sekt-Flaschen, die er 1943 mit seinen Soldatenfreunden in Reims trank (Pommery) ebenso gemerkt wie den Treibstoff, der sein Hochzeitsauto fahren ließ (Holzgas). „Entschuldigung, jetzt bin ich schon wieder abgeschweift“, sagt er manchmal, wenn ihn ein Detail an ein anderes erinnern lässt und das wieder an ein anderes.
Wilhelm Simonsohn und Elisabeth Mantow heiraten am 1. November 1945 in Hannover. Er im geliehenen Gehrock und mit goldenen Manschettenknöpfen, sie ohne lange Schärpe, dafür mit glitzerndem Diadem. Dass sie heiraten wollten, hatten sie auf einem Sofa verabredet, in Hamburg-Altona, in der Wohnung seiner Mutter. Die ersten Jahre nach dem Krieg leben sie in einem Zimmer mit Fensterscheiben aus Pappe und von 1000 Kilokalorien am Tag. Damit sie den Winter überleben, stiehlt er in der Dämmerung Kohlebriketts.
Im Sommer 1953 kaufen sich beide ihre erste Vespa und fahren bis nach Italien. Simonsohn fährt, Liesel hinten drauf, umschlingt für Wochen seine Hüfte. „Eine schöne Venezianerin aus Hamburg“, schreibt Simonsohn in ihr Fotoalbum. Sieben Monate später gebärt sie in einem Abstand von einer halben Stunde die Zwillinge Cornelia und Barbara. Liesel kündigt ihren Job als Sekretärin und wird Hausfrau.
Damit sie trotzdem auch Zeit für sich hat, übergibt sie ihm manchmal den Zwillingskinderwagen nach seiner Arbeit. In den Fünfzigern ist es unüblich, dass sich Männer in der Öffentlichkeit um ihre Kinder kümmern. „Ich habe das gerne gemacht“, sagt Simonsohn, sollten die Leute doch gucken. „Wenn die Kleinen eingeschlafen waren, konnte ich immer vortrefflich meiner Lektüre nachgehen.“ Wie meist spricht er den Satz mit einer Betonung auf dem Adjektiv aus, das, auch das ist häufig, ein bisschen aus der Zeit gefallen ist. Vor-TREFF-lich!
Im Herbst 1956 will er bei der Lufthansa anheuern. Die sucht Piloten mit Nachtflug-Erfahrung. Mit nur einem halben Jahr Ausbildung könnte er umsatteln, wieder hoch in die Lüfte steigen, als Pilot arbeiten. Sein Arbeitgeber, die Hamburger Universitätsverwaltung, erlaubt die Pause nicht. Ginge er trotzdem, wäre er arbeitslos. Mit nur einem Gehalt und zwei kleinen Kindern kann er sich das nicht leisten.
Heute erinnern in seiner Wohnung etwa 25 Modellflugzeuge an Simonsohns Traum vom Fliegen. Seit seiner Haushälterin das wichtigste Modell, der Fieseler Storch, heruntergefallen war, gilt Putzverbot für die Glasvitrine. „Das ist mir zu gefährlich“, sagt er und streicht mit den Fingern über das Glas als würde er es streicheln. Simonsohns Stimme wird nach vier Stunden Erzählung aus seinem Leben das erste Mal leise. Der Fieseler Storch liegt dort noch immer zerbrochen, Staub bedeckt den Boden.
In den Sechzigern ziehen die Simonsohns aus dem Hamburger Stadtteil Eimsbüttel nach Bahrenfeld, leben zu viert in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Urlaube an der Nordsee, Ostsee und Österreich, meist mit dem Wohnmobil. Ein Leben für die Kinder. Manchmal streiten sie sich. „Doch bevor wir uns nicht vertragen haben, sind wir nie nebeneinander eingeschlafen“, sagt er. So vergehen die Jahre, bis die Zwillinge fünfzehn Jahre alt werden. Nur mit Mühe gelingt es ihnen, die rebellischen Teenager noch zu einem England-Urlaub auf dem Land zu überzeugen. Als die Mädchen einmal heimlich nach London trampen, ohrfeigt er sie.
Mit 17 Jahren ziehen die Töchter, geprägt von der Studentenbewegung, in ein baufälliges Haus in den Stadtteil Harvestehude. Er sieht, wie Steckdosen aus der Wand hängen, wie sie die dreckige Kleidung auf dem Boden liegen lassen. Hoffentlich schaffen beide ihr Abitur, sorgen sich die Eltern. Doch sie werden nicht enttäuscht, zwei Jahre später studieren beide an der Uni Hamburg.
Im Winter 1981, Simonsohn ist gerade pensioniert, fahren sie allein mit dem Wohnmobil los. Eigentlich wollte er sich ein Segelboot kaufen. Doch dass der Wind sich drehen und man nicht immer alles planen kann, macht Liesel nervös. „Liesel ist nicht gern abhängig von Wind und Wasser gewesen“, sagt Simonsohn.
Auf den Reisen durch den Maghreb, die sie jetzt jeden Herbst unternehmen, habe sich Liesel öfter über ihn geärgert, sagt er. Wie er da immer draußen sitzt und liest. „Es gibt Menschen, die arbeiten, um zu leben. Und es gibt Menschen, die leben, um zu arbeiten. Du bist nur hier, um zu leben“, sagt sie. Einen Winter verbringen sie auf den kanarischen Inseln. „Vielleicht kommen wir ja nochmal zurück und bleiben dann für immer“, sagt er.
Einmal, in den Neunzigern, unterbricht Liesel den Urlaub in Agadir, um sich in Deutschland um ihre Enkel zu kümmern. „Sie war immer so gerne Oma“, sagt er. Als er sie nach vier Wochen am Flughafen abholt und sieht, wie die Rolltreppe ihre grauen Locken als erstes in sein Sichtfenster schieben, kribbelt es in seinem Bauch wie damals im Zug.
Wenn er und Liesel zusammen auf dem Sofa sitzen, lösen sie gern Kreuzworträtsel. Weiß er ein Wort, das sie nicht kennt, muss er ihr dessen Existenz erst im Lexikon nachweisen. „Geh mir weg mit deinem Prometheus. Nur weil das da drinsteht, glaube ich es noch lange nicht!“, sagt sie einmal. Auch über ihr erstes Treffen im Zug streiten sie gern. „Liesel hat beteuert, dass sie damals nicht Braut, sondern Maschinenpistole gesagt hat“, sagt Simonsohn. „Sie hat immer zu mir gesagt: ‚Braut wolltest du nur gehört haben!‘“
Im Jahr 2003, sie ist jetzt 82, er 84 Jahre alt, unternehmen sie ihre letzte große Reise, eine Kreuzfahrt nach Spitzbergen. Liesel geht es immer schlechter. Pflegestufe 1. Pflegestufe 2. „Jetzt bist du mal an der Reihe“, sagt sich Simonsohn und beginnt sie zu pflegen. Als er ihren Körper nicht mehr aus der Badewanne heben kann, baut er das Badezimmer um. Als sie inkontinent wird, trennt er die Betten.
Zwei Jahre später fällt Liesel ins Koma, er besucht sie jeden Tag. Drei Wochen vergehen, bis der Arzt sagt: „Selbst wenn sie noch einmal aufwacht, Liesel wird nie mehr die sein, die sie mal war.“ Der enge Familienkreis kommt in der Asklepios Klinik St. Georg zusammen und Wilhelm Simonsohn lässt zu, dass ihre Atemgeräte abgestellt werden. Er sieht, wie auf dem Monitor die Sinuskurve zu einer Linie wird. Elisabeth Simonsohn schläft ein und stirbt im November 2005 mit 84 Jahren.
An welcher Krankheit Liesel gestorben ist, was genau der „Unfall“ war, wie er es bezeichnet, will Simonsohn nicht sagen. Er, der fast immer fröhlich über sein Leben erzählt, wird zum zweiten Mal leise, schaut weg, verschließt sich. „Es war schrecklich“, sagt er, „ich möchte nicht darüber reden“.
Nach ihrem Tod weiß er nicht wohin, will nur noch raus. Semperoper in Dresden, Strandwanderung in Agadir, Grachtenfahrt durch Amsterdam. Er will zurück an die Orte, an denen sie zusammen waren, und glücklich. Fast hätten sie die Diamantene Hochzeit geschafft, 60 Jahre. Nur zwei Wochen haben gefehlt. Als er ihren Grabstein bestellt, ordert er gleich einen zweiten dazu, in selber Größe, in selber Schriftart: „Wilhelm Simonsohn, * 1919“, steht darauf.
Zum ersten Weihnachtsfest ohne Liesel schreibt ihm seine Enkelin Shantila, 16 Jahre alt, einen Brief: „Lieber Opa, in den letzten Wochen war es sicher nicht einfach für dich. Du hast deine jahrzehntelange Ehefrau und meine Oma verloren. Viele Menschen wären an deiner Stelle verzweifelt nach so einem schrecklichen Ereignis. Doch du hast gesagt, dass das Leben weitergeht. Jedes Mal, wenn du bei uns zu Besuch bist, lerne ich etwas Neues dazu. Ich bewundere dich und bin froh, dass du da bist.“
„Liesel und ich“, sagt Simonsohn, „waren zwei Hälften, die zusammengewachsen sind“. Gemeinsam haben sie gehungert, gemeinsam haben sie die Welt entdeckt. „Was uns zusammengehalten hat, war mehr als Liebe. Wir waren Kameraden“, sagt er.
Ein Jahr nach ihrem Tod besucht Simonsohn noch einmal die Station im Krankenhaus in St. Georg. In seiner Hand hält er eine Pralinenschachtel. „Als Ausdruck meiner Dankbarkeit, weil Sie sich so um meine Frau gekümmert haben“, sagt er zur Oberschwester.
„Am meisten vermisse ich ihr Lachen, auch wenn sie das am Ende kaum noch tat“, sagt Simonsohn. „Hätte ich ihr doch nur mehr Blumen geschenkt, die mochte sie immer so gerne. Manchmal war ich echt ein Holzpferd.“
Es sind nur wenige Wochen bis zu seinem 100. Geburtstag. Noch immer wohnt er in der Wohnung in Bahrenfeld, der Wohnung, in der er mit Liesel alt wurde. Lange ging es mit seiner Gesundheit gut, mit 70 lief er zehn Kilometer noch in unter 40 Minuten. Heute ist er schwerbehindert, die Augen, die Ohren, die Beine, das Herz. Er braucht zwei Hörgeräte und trägt eine Brille mit UV-Schutz. Weil ihn eine Augenkrankheit nur noch Konturen sehen lässt, kann er nicht mehr lesen und schreiben. Deswegen steht der Fernseher in einem Abstand von zwanzig Zentimetern von seinem Sofa entfernt.
Der Verfall seines Körpers grämt ihn, nimmt ihn aber, wie so vieles in seinem Leben, mit Humor. Als ihn der Pflegedienst vor wenigen Wochen in die Pflegestufe 2 einstufte, sagt er: „Ich bin befördert worden!“
Einmal im Monat trifft er sich bei der „Zeitzeugenbörse“ mit den anderen Zeitzeugen aus Hamburg, um gemeinsam die nächsten „Einsätze“ in Hamburger Schulen und Interviews für Journalisten zu besprechen. Einmal die Woche bringt ihm ein pensionierter Richter Hörbücher vorbei. „Das ist meine geistige Nahrung“, sagt Simonsohn. Gerade hört er „Klaus Modick – Konzert ohne Dichter“, ein Roman über die Liebe. Zum Leben braucht er sonst nicht viel. Mittags macht er sich oft Kartoffelbrei aus der Tüte, morgens trinkt er einen gehäuften Löffel Instantkaffee.
Wilhelm Simonsohn ist nicht allein, er hat zwei Töchter, sechs Enkel und drei Urenkel. Im letzten Monat demonstrierte er mit seinen Töchtern, einem Enkel und zwei Urenkeln bei Fridays-for-Future vor dem Hamburger Rathaus. Zu seinen Geburtstagen kommt die ganze Familie zusammen, seinen 99. Geburtstag feierten sie auf einer Dampfbarkasse auf der Elbe.
Cornelia und Barbara besuchen ihn regelmäßig. Sie pflegen die Ordner, in denen er die Dokumente seines Lebens sammelt: Urkunden, Fotos, Zeitungsberichte. In seiner Wohnung bleibt eine vergangene Zeit lebendig. An den Wänden hängen die Fotos seiner Reisen mit Liesel, groß aufgezogen auf Leinwänden. Wem er sie zeigt, sagt er: „Entdecken Sie meine Frau? Schauen Sie nur, da hinten sitzt sie, ganz versteckt.“ Das Bild zeigt Liesel bei einem Urlaub in der Serengeti, sie sitzt auf einem Stein in der Savanne.
Er kommt sie jetzt nicht mehr so oft auf dem Friedhof besuchen. Doch wenn er dort ist, schaut sich jedes Mal um. Er will sicher sein, dass ihn niemand beobachtet, wenn er zu ihr spricht: Neulich Liesel, hat mich der NDR besucht, und das japanische Fernsehen war auch hier.
Foto: Imke Lass