Ihre erste Wahl / DIE ZEIT / August 2021
Sie sind nicht viel länger auf der Welt, als Angela Merkel Kanzlerin ist. Nun dürfen sie mitbestimmen, wer ihr nachfolgt. Was wollen Erstwähler von der Politik? Ein Gespräch
Als Angela Merkel 2005 ihren Amtseid vor dem deutschen Bundestag schwor, wurde Lara von ihrem Vater auf die Gipfel der Sächsischen Schweiz getragen, und Jaspinder tanzte zur Lieblingsmusik ihrer älteren Geschwister, »Candy Shop« von 50 Cent. Als Merkel 2008 versuchte, die deutschen Banken vor dem Ruin zu retten, las Sebastian alle Bücher der Entdeckerreihe »Das magische Baumhaus«, und Philipp hielt die ersten Bälle im Tor seines Sportvereins. Und als Merkel 2017 die »Ehe für alle« zur Gewissensentscheidung erklärte, zog Lamja in ihre erste WG nach Koblenz, und Philipp hörte mit dem Fußball wieder auf, weil ein Schuss ihm die Nase brach. In diesem Herbst werden Lara Schwäger, Jaspinder Kaur, Sebastian Grieme, Philipp Thamer und Lamja Aazzouzi erstmals bei einer Bundestagswahl wählen dürfen. In Einzelgesprächen mit ihnen über das Ende der Ära Merkel hatten sie uns bereits klargemacht: Ihnen geht es nicht nur um Abschied, sondern auch um einen Aufbruch. Für diesen Text haben wir die fünf, die sich vorher nicht kannten, bei einem digitalen Treffen zusammengebracht.
Sebastian: Wenn ich an Angela Merkel denke, erinnere ich mich vor allem an ihren Politikstil. Merkel hat es perfektioniert, den Status quo zu verwalten. Etwas verändert hat sie bis auf wenige Ausnahmen nur, wenn es sich ohne große Schwierigkeiten umsetzen ließ. Als sie 2011 den Atomausstieg nach Fukushima verkündete, hatte die Mehrheit der Deutschen schon lange keine Lust mehr auf die Kernenergie.
Eine klassische Sebastian-Aussage. Er stellt nur Thesen auf, die er sofort belegen kann. Sebastian ist 21 und studiert Mathe und Physik. Seine ersten Vorlesungen in theoretischer Physik besuchte er während der Schulzeit, heute ist er im vierten Semester und Aktivist bei Fridays for Future. Er findet: Wenn wir jetzt nicht handeln, ist es zu spät, das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen.
Sein größter Widersacher ist Philipp, 21. Philipp studiert BWL an der WHU – Otto Beisheim School of Management, dazu Politik an der Fern-Uni Hagen und will nebenbei noch Organist werden. In seinem LinkedIn-Profil schreibt er: »There is no elevator to success, you have to take the stairs.« Philipp ist Mitglied der Jungen Union.
Philipp: Ich erinnere mich sofort an die Flüchtlingskrise und ihren berühmten Satz »Wir schaffen das«. Indem sie das »Wir« betonte, etablierte sie in Deutschland eine Willkommenskultur. Oder sie hat es zumindest versucht.
Jaspinder: Und das trotz der ganzen Anfeindungen, der »Merkel muss weg«-Rufe. Sie wollte allen zeigen: Diese Menschen sind auch ein Gewinn, nicht nur eine Last.
Lara: Ich bin ziemlich sicher, dass ich niemals die CDU wählen werde. Im Sommer 2015 hätte ich es mir kurz vorstellen können.
Jaspinder und Lara sind beide 20 Jahre alt. Beide haben ihr Abitur in der Pandemie geschrieben. Jaspinders Eltern kommen aus Indien und betreiben seit den Nullerjahren ein Modegeschäft, in dem sie unter anderem Mäntel aus Kunstpelz verkaufen. Jaspinder ist in Billstedt aufgewachsen, ein armer Stadtteil im reichen Hamburg. Lange teilte sie ihr Zimmer mit zwei Geschwistern. Heute hat sie ihren eigenen Raum mit weicher Matratze und findet: Das ist ein Privileg. Sie trat den Jungen Liberalen bei, weil sie meint, dass die FDP verspricht, was sie sich am meisten wünscht: Aufstieg.
Laras Familie bestand lange Zeit nur aus ihrer Mutter und ihr selbst. Zusammen zogen sie oft um: von Sachsen-Anhalt nach Brandenburg nach Sachsen. Ihren Vater bezeichnet sie als »Ferien-Vater«. In Dresden ist sie aufgewachsen, dort lebt sie noch heute. Im Westen war sie das erste Mal bei einer Schulung in ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr beim DGB, dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Im Herbst will sie sich für Politikwissenschaft einschreiben, am liebsten in Potsdam. Sie zweifelt aber, ob es reichen wird: ihr Abi-Schnitt für die Zusage und das Geld für die Miete.
Lamja: Ich fühle mich nicht angesprochen, wenn weiße Politiker:innen von einem »Wir« sprechen. Wer soll das sein? Ich habe nicht das Gefühl, dass es für Angela Merkel ein großes Anliegen war, etwas gegen Rassismus zu unternehmen. Nach dem Attentat in Hanau hat sie zwar gesagt: »Rassismus ist ein Gift. Hass ist ein Gift«, konkreter wurde es allerdings nicht. Bis heute weiß keiner, was genau in der Nacht vom 19. Februar 2020 geschah.
Lamja, die als Einzige darauf besteht, in ihren Aussagen mit einem Doppelpunkt zu gendern, ist gerade 23 geworden und damit die Älteste der Runde. Ihre Mutter zog Ende der 1970er-Jahre aus Marokko nach Saulheim, einen Ort mit heute rund 8000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz. Heute studiert Lamja nicht weit von dort Psychologie und Soziologie und bezeichnet sich als eine »migrantisierte« Person, was für sie bedeutet, dass ihr das Fremdsein zugeschrieben wird. Das Gefühl, anders zu sein, begleitet sie ihr ganzes Leben. Lamja ist gläubige Muslima, sie betet fünfmal am Tag. Eine ganze Weile verschwieg sie das, wenn sie nicht unter Muslimen war. Dann sagte sie: Ich muss mal kurz auf die Toilette. In einem ihrer Gedichte, das sie auf Instagram veröffentlicht hat, heißt es: »Ich will mich desintegrieren, für die ganzen verlorenen Jahre, in denen ich verstecken musste, was ich in mir trage.«
ZEIT: Im September wählt ihr das erste Mal einen Deutschen Bundestag. Was ist das für ein Gefühl?
Philipp: Ich spüre ein Pflichtbewusstsein und freue mich, dass ich endlich ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft bin. Gerade nach dem vergangenen Jahr, in dem man als Student nicht so das Gefühl hatte, überhaupt zu zählen.
Lara: Ich denke mir: Krass, ich darf das jetzt. Das letzte Mal hatte ich so ein Freiheitsgefühl, als ich den Führerschein gemacht habe.
Lamja: Ich hätte ja 2017 schon wählen können. Habe es damals aber nicht getan, weil ich dachte: Meine Stimme zählt eh nicht. Heute ist das anders. Ich fühle mich dafür verantwortlich, aus meiner Perspektive mitzubestimmen. Auch wenn ich nicht glaube, dass sich am Ende etwas für mich ändert.
ZEIT: Warum?
Lamja: Ich fühle mich kaum repräsentiert. Und wenn, dann eher von Landespolitiker:innen wie Aminata Touré, die mit 27 die erste afrodeutsche Vizepräsidentin im Landtag von Schleswig-Holstein wurde. Im Bundestag sind es eher Momente, in denen ich mich gesehen fühle. Wenn zum Beispiel über das Leid der Gastarbeiter:innen gesprochen wird und ich weiß: Da ist jetzt auch mal meine Familie mitgemeint. Meine beiden Opas schufteten auf dem Bau und bei Opel.
Jaspinder: Ich mag Politiker wie Konstantin Kuhle von der FDP, die sich stark nach rechts abgrenzen. Vergangenes Jahr hielt er eine beeindruckende Rede gegen die AfD. Er fragte sie: »Wissen Sie, was das Hauptproblem der hart arbeitenden, muslimischen Arbeitnehmer und Selbständigen in Deutschland ist? Dass sie mit ihren Steuern Ihren Rassismus und Faschismus finanzieren müssen, den Sie hier im deutschen Bundestag ausleben!« Das Video davon haben mir alle meine Freunde geschickt.
Philipp: Während der Maskenaffäre in der CDU habe ich mich schon gefragt: Warum setze ich mich eigentlich so viel für die ein? Zum Glück sagte Ralph Brinkhaus, der Fraktionsvorsitzende, schnell: »Wir haben da Fehler gemacht.« In diesem Moment habe ich mich vertreten gefühlt, weil ich Politiker schätze, die Haltung zeigen. Die großen Themen unserer Generation, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit, sehe ich bei der CDU zwar auch vertreten. Sie priorisieren sie aber anders oder kommunizieren sie nicht so gut.
Sebastian: Sie priorisieren sie nicht und kommunizieren sie ziemlich schlecht. Und sie werden ihrer Verantwortung in der Bundesregierung nicht gerecht. Deutschland hat 2015 das Pariser Klimaabkommen unterschrieben und sich verpflichtet, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Was macht man dann als Erstes? Man schaut, wie man das umsetzen kann. Hat aber keiner gemacht! Da mussten erst wir von Fridays for Future kommen und eine Studie in Auftrag geben, als Jugendliche! Das ist doch irre!
Sebastian, der Naturwissenschaftler, ist bei Klimafragen in seinem Element. Er schafft es, fast jede Frage aufs Klima zu beziehen. Und Verantwortliche dafür in der Bundesregierung zu finden. Zum Unmut von Philipp, der der Bundesregierung immer viel Verständnis entgegenbringt.
ZEIT: Reicht Wählen heute also nicht mehr aus, um etwas zu verändern?
Sebastian: Wir haben unsere politischen Forderungen auch mal vor einem Brachiosaurus-Skelett im Berliner Naturkundemuseum vorgestellt. Das war so frech, dass alle darüber geschrieben haben. Da habe ich gelernt: Man kann überraschend viel Einfluss gewinnen.
Philipp: Ich finde auch: Ihr von Fridays for Future habt gezeigt, wie man sich überparteilich verbünden kann. Egal ob Initiative oder Partei, das klassische Motto ist: Keep pushing.
Lamja: Leider hat nicht jede:r das Privileg, sich politisch einmischen zu können. Nicht jede:r wird gleich gehört oder hat Zeit dafür. Ich glaube aber an die Kraft von Demonstrationen. So kann man klarmachen, wie akut zum Beispiel die lückenlose Aufklärung der Tatnacht in Hanau ist.
Lara: Mich hat in meinem Freiwilligen Sozialen Jahr überrascht, wie viel offene Briefe erreichen können. Man denkt ja, das interessiert doch niemanden, wenn der DGB einen Brief wegen Haushaltskürzungen schreibt. Aber wenn sich genug Leute zusammentun, dann nimmt das auch die Regierung ernst. Demokratie muss man leben, auch auf der Arbeit.
ZEIT: Die meisten Wähler der Regierungsparteien Union und SPD stammen aus der Generation der sogenannten Babyboomer. Wird nur für diese Menschen Politik gemacht?
Sebastian: Ziemlich viel jedenfalls. Dabei widerspricht diese Politik auch dem, was sich viele Ältere wünschen: füreinander da sein. Das gilt auch für die Klimakrise. Ältere Menschen haben auch kein Interesse daran, bei 45 Grad im August zu sterben. Und das sind Temperaturen, Hitzewellen, auf die wir gerade hinsteuern. Wir sollten das also besser zusammen anpacken.
Philipp: Versteh mich nicht falsch: Ich habe auch Angst vor den Folgen der Klimakrise, und mir dauert es auch zu lange. Nur ist es eben nicht so einfach. Man muss auch an die Arbeiter in der Automobil- und Energieindustrie denken. An die Menschen, deren wirtschaftliche Existenzen bedroht sind. Ich glaube außerdem, dass die aktuelle Politik einfach der Demografie in Deutschland entspricht. Die Bevölkerung ist im Schnitt 45 Jahre alt. Die Politik zielt also auf den Durchschnittsdeutschen.
Sebastian: Den Ausdruck finde ich schwierig. Wir sind eine Gesellschaft. Und diese Gesellschaft besteht nicht nur aus 45-jährigen Silkes und Michaels. Außerdem wollen sogar die, dass ihre Renten bezahlt werden.
Philipp: Ich glaube trotzdem, dass Merkel und ihr Kabinett da gerade einfach nur versuchen, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Aber ja, in der Politik gilt leider noch immer: Man muss schon lange dabei sein, um sich durchzusetzen. Das macht es jungen Menschen meist von vornherein schwer.
Lamja: Nicht nur jungen Menschen. Auch viele marginalisierte Gruppen kämpfen um Repräsentanz! Es ist Fakt, dass nur rund acht Prozent der Bundestagsabgeordneten einen Migrationshintergrund haben, dabei sind wir in der deutschen Gesellschaft über 26 Prozent. Eine weiße Person kann sich zwar genau wie eine von Rassismus betroffene Person mit Rassismus auseinandersetzen. Trotzdem wird die von Rassismus betroffene Person immer besser darüber sprechen können. Wir brauchen also nicht nur eine Vielfalt der Meinungen, sondern auch der Biografien. Erreichen könnten wir das mit Quoten für Frauen, aber auch für BIPoC, Trans-Idente und Menschen mit Behinderung.
Jaspinder: Tut mir leid, aber das sehe ich anders. Wenn ich nicht inhaltlich abliefern kann, bringt es niemanden etwas, dass ich im Bundestag bin, nur weil ich eine junge Frau mit Migrationshintergrund aus Hamburg-Billstedt bin. Ich würde mich wie eine Hochstaplerin fühlen.
Lamja: Ich wünsche mir auch, dass es ohne ginge. Aber an den Punkt kommen wir nur mit der Quote. Das erinnert mich übrigens an meine Eltern: Die waren vor allem dankbar, in Deutschland anzukommen. Und auch ich habe lange Zeit gedacht, dass ich wegen meines Migrationshintergrunds nichts fordern darf und alles dankbar annehmen muss. Ich habe es mir hart erkämpfen müssen, heute sagen zu können: Ich fordere jetzt.
Sebastian: Unsere Generation fordert jetzt.
Generationenporträts gelingen selten, weil sie oft viele beschreiben, aber nur wenige betrachten. Auch dieser Text basiert lediglich auf den Erfahrungen von fünf Menschen, die mit ihrer Eloquenz und ihrem Engagement vielleicht so etwas wie der Politik-Leistungskurs unter den Erstwählern sind. Aber man diskutiert ja auch nicht mit Fußballhassern über die EM.
Wer diesen fünf also zuhört, spürt nicht nur in nahezu jedem ihrer Sätze eine Dringlichkeit, die Zukunft zu verändern, und das am besten sofort. Man vergisst vor all den großen Worten vielleicht auch, dass das eigentlich etwas ziemlich Normales ist: Mit Anfang zwanzig sahen sich schon viele Generationen am Wendepunkt der Geschichte. Auch die oft erklärten Antagonisten der Generation Z, die Babyboomer, waren ja mal jung. Sie verbrannten BHs, demonstrierten gegen Atomkraft und erfanden sogar das Internet, das die Jungen heute so lieben.
Angela Merkel wurde 1954 geboren, auch sie ist eine Boomerin. Wie ihre Generation hinterlässt sie ihren Nachfolgern nicht nur verlorene, sondern auch gewonnene Kämpfe: Sie ist die erste Frau, die Bundeskanzlerin wurde, ebenso die erste Ostdeutsche.
Es gibt ein Video von Angela Merkel, darin sagt sie: »Die Umweltpolitik ist eine unheimlich spannende Angelegenheit. Die Menschen sagen oft: Ach, heute noch nicht. Wir fühlen zwar, dass vieles nicht in Ordnung ist, aber bitte heute dafür noch keinen Preis, bitte heute noch keine Last dafür übernehmen. Und da die Überzeugung zu machen: Wenn ihr es heute nicht macht, wird es für eure Kinder und Enkelkinder doppelt oder dreifach teurer.« Das war 1997.
Sebastian: Ihr habt sicher vom Bundesverfassungsgericht gehört, das den Staat quasi zum Klimaschutz verpflichtet hat. Der Paragraf 20 a steht aber schon seit 1994 so im Grundgesetz. Da fragt man sich schon: Warum braucht es erst dieses Urteil?
Philipp: Ich finde, wir müssen ein bisschen von diesem Gedanken wegkommen, dass Deutschland entweder immer Bester oder Schlechtester ist. Es läuft nicht gut, aber es läuft auch nicht schlecht. Es läuft in Ordnung.
Lamja: Ich finde die Debatte um das Urteil ehrlich gesagt sehr eurozentristisch. Im globalen Süden leiden die Menschen schon jetzt unter der Veränderung des Klimas: Sie leben in Armut oder müssen fliehen. Es ist akut und nicht nur Sache künftiger Generationen. Diese Sicht fehlt mir bei den Diskussionen um unsere Zukunft: Fridays for Future wird in der migrantischen Community manchmal auch »White Days for Future« genannt, nicht ganz zu Unrecht.
Sebastian: Wir bemühen uns aber schon klarzumachen: Die Klimakrise ist vor allem im globalen Süden bereits die Hölle. Und wird immer schlimmer. Wenn wir weiter Autos mit Verbrennungsmotoren fahren und unsere Häuser mit Öl und Gas heizen, werden weite Teile der Welt unbewohnbar sein, etwa der Süden Indiens, wo Hunderte Millionen Menschen leben.
Jaspinder: Ich bin selbst oft in Indien bei meiner Familie in Pandschab, und ich sehe, wie viel Plastikmüll da rumliegt. Müll, der in Europa produziert und in wirtschaftsschwache Länder transportiert wird. Wir als Industriestaat müssen wirklich erst mal an uns arbeiten. Dafür müssen wir grüner produzieren und in Alternativen zu Plastik, Massentierhaltung und Öl investieren.
Philipp: Aber ist eine eurozentristische Sichtweise nicht eher hilfreich? Es heißt doch immer: Man ist sich selbst am nächsten. Und wenn ich an Europa denke, sind wir nun mal eine gemeinsame Wirtschaftsmacht, in der man vielleicht am ehesten gemeinsame Lösungen finden kann. So wie Ursula von der Leyen, die den Green New Deal für die EU vorgestellt hat. Mit dem kann man dann von Europa in die Welt gehen. Konrad Adenauer formulierte mal: »Einheit in Freiheit ist nicht nur ein Anliegen des deutschen Volkes, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens in der Welt.« Ist ein bisschen weird, ich weiß. Aber den Gedanken finde ich gut.
Lamja: Aber das setzt voraus, dass Europa etwas in der Welt ändern müsste. Es ist aber andersherum: Europa muss viel an sich selbst ändern. Verursacher der Klimaschäden ist überwiegend der globale Norden. Wir müssen unsere eigenen Probleme lösen, statt groß zu verkünden: Ich gehe nach Afrika und zeig denen, wie Klimaschutz funktioniert.
Je konkreter die fünf diskutieren, desto klarer wird, wie anders sie die Welt betrachten. Wie unterschiedlich ihre Lebensläufe waren. Dann merkt man, dass es nicht egal war, dass Philipp in England aufs Internat ging, Sebastian in den Ferien die Berner Alpen durchquerte und Lamja, die Muslima, sich nach nahezu jedem islamistischen Terroranschlag auf Fragen ihrer Mitschüler vorbereitete. Sie sind von ihren Wohnorten beeinflusst worden, ihren Urlauben, ihren Mitmenschen. Auch von ihren Eltern?
Philipp: Ich bin unter anderem bei meiner Großmutter aufgewachsen. Sie kommt aus Bayern und ist Katholikin. Mein Glaube ist mir sehr wichtig, das habe ich wahrscheinlich von ihr. Von meinen Eltern, mein Vater arbeitet im Marketing, meine Mutter in der IT-Branche, unterscheide ich mich nicht wirklich. Wenn wir diskutieren, dann über Wirtschaft.
Lara: Mein Vater ist während der Pandemie zum Trump-Fan geworden. Er glaubt, dass die Antifa den Sturm aufs Kapitol organisiert hat, und schickt mir häufig YouTube-Videos von Verschwörungstheorien. Man könnte ihn wahrscheinlich als Querdenker bezeichnen. Wir haben inzwischen fast keinen Kontakt mehr, außer wenn wir uns wütende WhatsApp-Nachrichten schicken. Mein Vater ist also so ziemlich das Gegenteil von mir.
Sebastian: Meine Eltern sind eher konservativ. Mein Vater ist Arzt, meine Mutter Statistikerin. Die sehen vieles anders als ich. Zumindest in Klimafragen habe ich sie aber inzwischen um 180 Grad gedreht.
Jaspinder: Meine Eltern haben sehr lange die SPD gewählt, weil man das als guter Migrant einfach so gemacht hat. Die Partei stand für sozialen Aufstieg. Heute wählen sie die FDP, weil sie sich dort viel besser vertreten fühlen. Viele Migranten haben sich selbstständig gemacht und wünschen sich Unterstützung aufgrund ihrer Fähigkeiten, nicht wegen ihrer Herkunft. Ich werde deswegen, ihr ahnt es, auch die FDP wählen.
ZEIT: Und ihr anderen?
Lara: Weil ich mein Freiwilliges Soziales Jahr beim DGB mache, denken vermutlich viele, dass ich SPD wähle. Stimmt aber nicht, ich werde Grün wählen.
Lamja: Ich bin hin- und hergerissen zwischen den Grünen und den Linken, in letzter Zeit tendiere ich aber eher zu den Linken, weil ich mich viel mit Kapitalismus beschäftigt habe. Darin sehe ich alles miteinander verwoben: Ausbeutung, Umweltschutz, Rassismus.
Philipp: Trommelwirbel: Ich werde die CDU wählen. Ich traue der Partei zu, Ökologie, Ökonomie und Soziales gut miteinander zu verbinden und uns als Land weiterhin gut zu vertreten.
Sebastian: Der Aussage, »Ökologie, Ökonomie und Soziales gut miteinander zu verbinden«, würde sich wahrscheinlich fast jeder Mensch anschließen. Das Problem der CDU ist ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie wenige Tage nach ihren großen Reden wieder fast alle Fortschritte zu Ökologie und Sozialem blockiert.
ZEIT: Und wen willst du wählen, Sebastian?
Sebastian: Ich möchte das für mich behalten, weil ich da nicht so gut aus meiner Rolle als Aktivist rauskomme. Es ist wirklich wichtig, dass jede Partei Lösungen für die Klimakrise formuliert. Ich persönlich werde aber den wählen, der sich für einen höheren CO2-Preis, einen schnellen Bahnausbau und das Ende des Verbrennungsmotors zugunsten des Elektroautos ausspricht.
ZEIT: Einer der größten Unterschiede zwischen den Generationen liegt auch darin, wie sie Medien nutzen. Wenig junge Menschen lesen noch eine gedruckte Tageszeitung. Wo informiert ihr euch über Politik?
Lara: Ich höre am liebsten Podcasts, vor allem nebenbei, wenn ich mir morgens die Zähne putze. Zeitungsartikel lese ich eher online, weniger in Print. Und natürlich informiere ich mich in sozialen Netzwerken: Die Tagesschau hat einen tollen Kanal auf Instagram.
Jaspinder: Ich informiere mich auch vor allem auf Instagram. Da folge ich Politikerinnen wie Ria Schröder von der FDP, aber auch ZDFheute oder dem NDR Hamburg.
Lamja: Ich hatte lange sehr viele Apps auf dem Handy. Da bin ich von einer zur anderen gesprungen und habe Texte verglichen. Seit Corona hat mich das aber total überfordert und genervt, und ich habe alle Apps deinstalliert. Jetzt informiere ich mich auf Instagram-Kanälen wie dem von der News WG, die auch über Corona, Black Lives Matter und die Kanzlerkandidaten berichten.
Sebastian: Ich lese vor allem die klassischen Medien, also Spiegel, ZEIT, Süddeutsche. Ich bin auch relativ viel auf Twitter unterwegs, vor allem um Informationen aus erster Hand zu kriegen. Jemand wie Karl Lauterbach wird so oft falsch rezipiert, das ist krass.
Philipp: Meine Lieblingszeitschrift ist der Economist, den lese ich regelmäßig. Und wenn mich ein Thema wirklich interessiert, versuche ich, so viele Quellen wie möglich dazu zu finden, um möglichst viele Meinungen zu hören. Da ist dann auch mal ein taz- Artikel dabei.
Revolutionäre sind diese fünf wohl eher keine. Doch damit sind sie nicht allein. Das Institut für Demoskopie Allensbach befragte 2019 in einer repräsentativen Umfrage 16- bis 25-Jährige, unter anderem zu ihrem Politikverständnis. Darin sprachen sich nur 19 Prozent »für tiefgreifende Reformen« aus, die große Mehrheit von 64 Prozent sagte: »Unsere Gesellschaft soll durch kleine Reformen schrittweise verbessert werden.« Nur welche, bitte schön?
ZEIT: Stellen wir uns vor, es ist Winter 2021, die Wahl ist gelaufen, das neue Kabinett tritt zusammen. Welches Gesetz sollte es als erstes beschließen?
Sebastian: Eines, das einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreibt, besonders der Windkraft.
Philipp: Ein Bildungspaket. Wir brauchen mehr Geld für Bildung, mindestens sieben Prozent vom Bundeshaushalt und damit fast so viel wie für Verkehr.
Lara: Ich finde auch, es sollte ein Bildungspaket geben: Das Bafög muss sich erhöhen, weil man vom aktuellen Höchstsatz, 861 Euro, in vielen Städten schon jetzt nicht mehr leben kann. Für Nichtakademiker braucht es außerdem eine Ausbildungsplatzgarantie.
Jaspinder: Eine Hartz-IV-Reform. Jugendliche aus Familien, die Hartz IV beziehen, müssen 80 Prozent von jedem Euro ab einem Verdienst von 100 Euro abgeben. Das gehört abgeschafft, weil es niemanden fördert.
Lamja: Es braucht eine Kontrollinstanz für die Polizei, das haben Recherchen über rechte Netzwerke, Chatgruppen und Racial Profiling gezeigt.
ZEIT: Was werdet ihr an Merkel vermissen?
Philipp: Ihre sachliche und bestimmte Art.
Lara: Ich fand diese grundsätzliche Ruhe in ihren politischen Entscheidungen angenehm. Auch wenn sie vielleicht oft zu viel Ruhe bewahrt hat.
Lamja: Ich werde ihren trockenen Humor vermissen. Erinnert ihr euch noch, als sie sich mal mit »Tschüss, mach’s gut und see you« von Markus Söder verabschiedet hat? Das war so lustig.
Philipp: »Danke, Merkel!« als Redewendung, wenn etwas schiefgegangen ist, bleibt auch für immer unvergessen.
ZEIT: Und was, meint ihr, macht Angela Merkel in fünf Jahren?
Sebastian: Ich wäre schon zufrieden, wenn sie es besser machen würde als ihr Vorgänger und nicht für russische Gaskonzerne lobbyiert.
Philipp: Frau Merkel wird in fünf Jahren Professorin sein. Sie hat so viele Ehrendoktortitel bekommen und versprochen, alle Universitäten zu besuchen. Eine Frau mit ihrem Wissen und ihrer Politikbegeisterung wird das an zukünftige Generationen weitergeben, da bin ich mir sicher.
Lamja: Bisschen crazy, aber ich stelle mir vor: Sie wird Antifaschistin, lebt in Frankfurt und hört Haftbefehl. Auf Demos macht sie Klassenkampf.
Lara: Ich sehe sie mit ihrem Mann Joachim Sauer nach Bayern ziehen. Irgendwohin, wo es sehr ruhig und ein bisschen abgelegen ist. In ihrem Garten pflanzt sie Kartoffeln.