Sie war die eine Band, die einen immer verstand.

»Ich war 18 und diese Band brach mir das Herz« / ZEIT ONLINE / Februar 2019

Als sich ihre Lieblingsband trennte, musste unsere Autorin heulen. Zehn Jahre später tritt die Band Muff Potter wieder auf und sie fragt sich: Lieben wir uns noch?

Alles war scheißtraurig. Neben mir stand der Junge, dem ich nicht sagen wollte, was ich für ihn empfand. Vor mir spielte meine Lieblingsband gerade ihr letztes Konzert. Es war 2009 und die Deutschpunkband Muff Potter wollte nicht mehr. Nach sechzehn Jahren. Das kann‘s doch nicht gewesen sein, heut Nacht sterb ich für mich allein , sang Nagel zum Schluss, dann verstummten die Gitarren. Als das Deckenlicht anging, verabschiedete ich den Jungen, allein fuhr ich mit der Westfalenbahn nach Hause. Dort nahm mich meine Oma in den Arm. Trennungen, mein Kind, tun immer weh.

Muff Potter war die wichtigste Band meiner Jugend, weil sie sangen, was ich nicht sagen konnte. Sie beschrieben, was ich fühlte, obwohl ich es nicht wollte. Ich war 16, als ich sie entdeckte, und 18, als sie sich trennten. Sie war meine Lieblingsband und hatte damit einen ähnlich kostbaren Status, wie ihn beste Freunde haben. Sie war die eine Band, die einen immer verstand. Erst wurde Alles war schön und nichts tat weh zu meinem ICQ-Status, dann Ein 100 Kilo Herz schlägt auf mich ein , später Wir beiden sind die Guten . Muff Potter hielt mir die Hand, als die Welt auf mich zuzurauschen begann. Das Plakat von ihrer letzten Tour klebte noch bis kurz nach meinem Abitur an der Tür zu meinem Jugendzimmer. „Gute Aussicht“ stand darauf. Dann vergaß ich Muff Potter. Ich zog zu Hause aus und weiter.

Am 3180. Tag nach ihrer Auflösung verkündete Thorsten Nagelschmidt, Frontsänger und Gitarrist, was mir damals unmöglich schien: Muff Potter kommen zurück. Wir spielen eine Tour durch ganz Deutschland, in alter Besetzung, mit den alten Songs. Als ich die Neuigkeit in meinen sozialen Netzwerken teilte, erreichte mich eine private Nachricht: „Marlo würde durchdrehen, er hat sich das immer so sehr gewünscht.“ Marlo war seit zwei Jahren tot, er starb mit 29. Auch mit ihm war ich damals in Münster gewesen. Ich kaufte mir eine Karte. Ich wollte wissen, was mich noch mit Muff Potter verband.

Ein halbes Jahr später treffe ich meine beste Freundin Wiebke am Hamburger Hauptbahnhof. Sie kennt die Band noch aus Teenagertagen. Wie ich kommt sie aus Niedersachsen, wuchs mit Wodka-O und Rockkonzerten auf. Um vorzuglühen, kaufen wir uns Dosenbier am Kiosk, zwei Paderborner für 3,30 Euro. Wir haben noch zwanzig Minuten, sage ich und rauche drei Zigaretten hintereinander. Anders als damals würde ich die Band gleich nicht mehr nur als ehemaliger Fan treffen, sondern auch als Journalistin. Ein Date mit meiner Vergangenheit würde es trotzdem bleiben. Ich hatte Nagelschmidt um ein Interview gebeten, in dem wir übers Älterwerden sprechen. Er hatte sofort zugesagt.

Im Backstage der Hamburger Markthalle begrüßt mich Nagelschmidt in Blumenhemd und Anzug. Er ist so elegant gekleidet, wie man ihn von seinen Lesungen kennt. Mittlerweile ist er Buchautor, sein letzter Roman, Abfall der Herzen, erschien im Februar. Ich muss noch eben die Setlist durchgehen, dann können wir sprechen, ja? Nagelschmidt trinkt einen Weißwein, ich ein Bier. Wollte eigentlich erst später anfangen zu trinken, sagt er und lacht. Einen Auftritt ihrer Reunion-Tour hatte die Band schon hinter sich, am Tag vorher spielten sie in Köln.

Mit jemandem zu sprechen, den man mal bewundert hat, ist ein seltsames Gefühl. Vor allem wenn es jemand ist, der von der eigenen Existenz nie etwas wusste. Doch Nagelschmidt scheint auch irgendwie aufgeregt zu sein, das macht es leichter und mich entspannter. Jetzt wieder auf der Bühne zu stehen, ist natürlich eine große Nummer, sagt er. Als Nagelschmidt die Band gründete, war er 16, als sie sich auflöste 32. Muff Potter begleitete ihn jeden Tag seines Erwachsenenlebens, alle vier Bandmitglieder verzichteten für die Musik auf eine Ausbildung.

Ich frage ihn, wer für die Reunion verantwortlich sei, aber eigentlich kann ich mir die Antwort schon denken. Nagelschmidt erzählt mir, wie er vor zwei Jahren seinen Schlagzeuger Brami besucht hatte. In Oelde, auf dem Land, bei seiner Frau und den zwei Kindern. Den ganzen Tag hatte er sich überlegt, wie er das machen könne, Brami zu fragen, ob sie nochmal wollen. Ist dein Schlagzeug eigentlich noch da, also das Instrument?, fragte Nagelschmidt den Freund dann, als sie beide betrunken waren. Brami wusste sofort, was los war. Ich stelle mir vor, wie die beiden Freunde sich danach vielleicht umarmt haben und gelacht, als hätten sie einen Pakt geschlossen. So wie man das macht, wenn man mit alten Freunden beschließt, wieder zusammen loszuziehen, und nicht nur in der gemeinsamen Vergangenheit, sondern auch in einer Zukunft zu existieren.

In welchen Momenten hast du Muff Potter eigentlich vermisst?, frage ich. Wenn ich besoffen war, sagt Nagelschmidt. Dann, wenn ihm der iPod auf dem Heimweg einen Muff-Potter-Song abgespielt hatte, und er daraufhin das drängende Bedürfnis hatte, noch einen weiteren Muff-Potter-Song zu hören. Am Ende habe ich mich dabei ertappt, wie ich schon längst zu Hause bin und immer noch Muff Potter höre und außerdem eine Gitarre auf den Knien habe, sagt er. Manchmal im Studium hatte ich mir auch betrunken die alten Playlists von früher angehört. Eine heißt bis heute Western von Gestern , auch ein Muff-Potter-Song.

Traurig war kein Zustand, sondern ein Adjektiv war damals ja immer meine Lieblingszeile, sage ich, ein bisschen leise, als würde ich mich vor seiner Reaktion fürchten. Doch Nagelschmidt lächelt, die finde ich auch gut, sagt er. Kurz habe ich das Gefühl, dass wir uns ganz nah sind, weil wir darüber sprechen, was uns beiden wichtig ist. Mit eurer Trennung habt ihr mir echt das Herz gebrochen, sage ich. Vor allem, dass ich nichts dagegen tun konnte, war furchtbar. Mich hat ja damals niemand gefragt.

Das tut mir leid, sagt Nagel und erklärt mir dann, dass er anfangs ziemlich froh war, die Band los zu sein. Er wollte etwas Neues. Mit dieser ganzen Geschichte auf dem Rücken wird man irgendwann unbeweglich, sagt er, man hat sieben Alben, du kannst nie eine perfekte Setlist machen, immer sagt jemand: Das hat aber gefehlt.

Wer sich trennt, will sich verändern, das muss man akzeptieren.

Aber wie ist das, wenn du heute zum Beispiel 100 Kilo singst?, frage ich. Den Song hatte Nagelschmidt als 24-Jähriger getextet, jetzt ist er 42. Ich weiß natürlich noch, was mich dazu getrieben hat, das so zu schreiben, sagt Nagelschmidt. Aber ich durchlebe das jetzt nicht mehr beim Singen, das habe ich 2009 schon nicht mehr. Bei der Setlist für die Tour hätten sie deswegen darauf geachtet, dass die Songs nicht nur musikalisch, sondern auch textlich das sind, was sie noch machen wollen. Es gibt einen Song von 2007, den wir damals selten live gespielt haben: Das sehe ich erst wenn ich‚s glaube mit der Zeile Es gibt kein gutes Leben ohne Blasphemie . Die irrsinnige Rückkehr der Religionen, dazu höre ich von anderen Bands erstaunlich wenig, sagt er.

Das Konzert in der Hamburger Markthalle erlebe ich als Rausch. Es fühlt sich an, als sei das hier ein Familienfest. Um mich herum stehen Paare, die sich bei bestimmten Zeilen immer wieder auf die Schulter tippen. Endzwanziger, die quasi dieselben Bandshirts wie vor zehn Jahren tragen. Ein Security, der mit dem Rücken zur Bühne steht, singt fast alle Lieder mit. Crowdsurfen, Pogen, verschüttetes Bier, alles da. Die Zeile Es gibt kein gutes Leben ohne Blasphemie wird noch zwei Minuten von einem Chor getragen. Ich könnte nicht sagen, welches Jahr gerade ist, es könnte auch 2009 sein. Seid ihr eigentlich auch alle älter geworden?, fragt Nagelschmidt das Publikum. Wer war noch nie auf einem Muff-Potter-Konzert? Ein paar Hände gehen hoch, die meisten bleiben unten. Ich bin mir sicher, da vorne steht einer aus der 8. Klasse, sagt Wiebke.

Als Nagelschmidt die ersten Zeilen von Wunschkonzert singt, zurre ich meine Tasche fest. Wiebke fragt, ob wir weiter nach vorne wollen. Ich nicke. Sie schubst mich weg und wir beginnen uns wie Flummis durch die Menge zu bewegen. Wie früher auf den Rockkonzerten und Festivals. Meine Haare ziepen und ich weiß nicht, ob der Schweiß auf meiner Haut noch mein eigener ist. Ich bin wieder 18 und doch 27. Bei Alles war schön und nichts tat weh muss ich ein bisschen weinen. Krass kitschig, aber was soll ich machen, ein bisschen Teenager bleibt immer. Dann spielen sie den letzten Song. Ein 100 Kilo Herz schlägt auf mich ein , singt Nagel. Das kann‘s doch nicht gewesen sein. Wie damals geht danach das Deckenlicht an. Wiebke und ich nehmen uns in den Arm. Das war schön, sage ich. Das war schön, sagt sie.

Foto: Katharina Meyer zu Eppendorf