Wir sind alle allein, allein / ZEIT ONLINE / März 2020
Webcampartys, gestreamte DJ-Sets und Onlinebars. Unsere Autorin ging trotz Kontaktsperre feiern: im Internet.
Ich wache auf, wie man aufwacht, wenn man zu viel gefeiert und zu wenig geschlafen hat. Meine Schläfen pochen, meine Haare riechen nach Zigaretten und in meinem Mund schmeckt es nach Zahnpastabier. Ich habe Durst und es ist zu hell. Vom Balkon scheint die Märzsonne in mein Gesicht. Ich taste nach meinem iPhone. Ich will wissen, wie es um den Tag bestellt ist. Der Sperrbildschirm zeigt es mir an: Sonntag, 9.34 Uhr. Mein Experiment hat funktioniert, ich war feiern, trotz Kontaktsperre.
Um 19.11 Uhr und damit ein bisschen mehr als zehn Stunden vor meinem unglamourösen Aufwachen stehe ich in meinem Bad und tusche mir die Wimpern. Ich höre dabei dem Pianisten Igor Levit zu. Auf Twitter spielt er gerade wie jeden Abend eines seiner Wohnzimmerkonzerte, heute ist Robert Schumann dran, Fantasie C-Dur, op. 17. Ich verstehe nicht viel von klassischer Musik, aber was ich höre, klingt nach Träumen. Tausende schicken ❤️-Emojis in Levits Livestream und das ist fast noch schöner als sein Klavierspiel. Emojis sind in diesen Tagen eine wichtige emotionale Währung. Auch Emojis retten uns gerade den Arsch.
Ich muss mich dann ein bisschen beeilen, weil meine Party gleich beginnt. „Samstag, 20 Uhr!“, hatte ich meinen Marburger Freunden in die WhatsApp-Gruppe geschrieben. Als wäre alles wie damals, als wir alle noch zusammen studiert haben und ich in das unerhört große Wohnzimmer unserer Dreier-WG eingeladen habe. Kommt erst mal rum, später gucken wir einfach, wo es noch so hingeht. Um 19.44 Uhr schreibt Heiner, dass es bei ihm später wird, und Sarah, dass sie nicht kann, Stress in der WG.
Um 20 Uhr bin ich immer noch allein, um 20.03 Uhr ist Hendrik da. Die anderen, also Judith, Philipp, Marie, Heiner und Björn, werden nach und nach dazukommen. Es ist also alles wie immer, auch wenn wir hier gerade eine Webcamparty bei Zoom, dem Shootingstar der Videokonferenzanbieter, veranstalten und deswegen natürlich gar nichts ist wie immer. Wir feiern heute im Internet, weil wir müssen, und nicht, weil wir so richtig wollen.
Ich schenke mir etwas von meinem Riesling ein und albere mit Hendrik und Vivi herum. Die sind ja schon da. Natürlich besprechen wir erst mal, wie es uns so geht. „Wie geht es dir?“ ist immer eine gute Frage, gerade aber scheint sie mir überlebenswichtig zu sein, weil die Antwort darauf stündlich anders ausfallen kann. Die Corona-Krise ist so unwirklich, dass mich abwechselnd mal Zuversicht und mal Panik packt. Je nachdem, wie beschäftigt ich bin.
Hendrik und Vivi erzählen, dass sie gerade viel Computer spielen, also Age of Empires und Animal Crossing. Ich mache das auch und erzähle vom Leben meiner sechsköpfigen Sims-Familie und unserem Dungeons-&-Dragons-Abenteuer, das wir jetzt auch ins Internet verlagert haben. Philipp aus Köln, der ebenfalls zockt, Assassin’s Creed, sagt, dass er sich extra für unsere Party den Bart rasiert habe. Seine Freundin Marie, die neben ihm sitzt, hat hoffentlich bald ein Bewerbungsgespräch, und Lea und Michel aus Bonn sehen so aus, als hocken sie mit Marie und Philipp auf dem gleichen Sofa. Ich freue mich, sie alle zu sehen und vermisse es, sie nicht umarmen zu können. Um 20.23 Uhr wählt sich Judith aus Leipzig ein. Alle sehen viele Pixel und es knackt.
Hendrik: Oh Gott, Judiths Internet regt mich jetzt schon auf.
Judith: Jaja, diese Scheißhippies aus Leipzig, die nur ’ne Antenne auf dem Dach haben! Mann, wie funktioniert das hier?
Hendrik: GANZ LAUT REINSPRECHEN. DU MUSST GANZ LAUT REINSPRECHEN.
Judith: HALLO HENDRIK. Habt ihr auch Pizza gegessen?
Ich: Nee, Nudeln.
Hendrik: Isst du eigentlich nur noch Nudeln?
Früher waren wir oft den ganzen Tag zusammen, erst im Politische-Theorie-Proseminar, dann im Delirium/Frazzkeller, einer berühmten Marburger Kneipe. Manchmal sind wir auch noch ins Trauma. Das ist ein Club, oder zumindest das, was wir damals dafür gehalten haben. Aber wenn man sich gut versteht, dann geht man eben überall zusammen hin und hat es überall schön. Also vielleicht auch im Internet.
Vivi: Boah Hendrik, deine Chips sind so LAUT, ey.
Hendrik: KNRSHCHGH.
Lea: Hendrik!!!
Um 21.08 Uhr schreibt mir Judith auf Telegram: Hendrik sieht aus wie ein Zocker. Ich muss grinsen, seine Haare waren schon immer unser liebster Bewertungsgegenstand. Wir beide grinsen uns an, unsere Fenster sind nebeneinander. Könnten wir doch nur mal kurz auf den Balkon und eine zusammen rauchen. Aber das geht jetzt nicht. Webcampartys sind sehr fair, weil jeder gleich viel Platz bekommt, und wie man aussieht, ist auch ein bisschen egaler als sonst. Aber es gibt eben auch nur einen Ort, an dem man sich treffen kann, außer man chattet nebenbei. Eine WG-Party ohne Rückzug in die Küche oder ein anderes Zimmer? Fast so schlimm, wie sich die Schuhe ausziehen zu müssen.
Wir reden gerade über Musik, als Michel um 21.30 Uhr auf eine Idee kommt.
Michel: Ich kann euch Journey auf dem Klavier vorspielen.
Ich bin schlecht im Songtextemerken, deshalb schweige ich, als Michel tatsächlich zum Keyboard schreitet und in die Tasten haut. Der Anfang von Don’t stop believin‘ wärmt dermaßen mein Herz, dass ich die Augen schließe. Just a small town girl / Livin‘ in a lonely world. Die guten alten Zeiten. Journey haben wir immer sehr spät gehört, wenn die Party wirklich sehr gut war. Um 21.40 Uhr schaltet sich Björn zu, der gerade mit seiner Familie in der Karibik festsitzt. Um 22.34 Uhr wählt sich Heiner aus Hannover ein.
Vivi: Oh nein, Hendrik hat ’ne neue Tüte Chips!
Lea: Ich will auch Chips!
Judith: Wodka, Leute, Wodka.
Ich: Okay, lasst uns anstoßen.
Heiner: Ich muss mir noch was holen.
Vivi: Erst zu spät kommen, dann nichts zu trinken haben!
Ich: Haben jetzt alle was zu saufen!?
Lea: Ja.
Durcheinander: CHIN-CHIN, LECKER, PROST.
Hendrik: Judith, wieso verziehst du das Gesicht?
Judith: Ich hab Wodka getrunken, ihr habt nur irgendwelchen Wein getrunken!
Ich: Ich würd so gern in eine echte Kneipe jetzt mit euch.
Lea: Ich auch. Aber, nächste Woche selber Ort?
Durcheinander: Jaa.
Bis um 23.50 Uhr geht das dann so weiter. Wir ärgern uns noch ein paar Mal über Judiths Internet und Hendriks Chipstüte und wir lesen uns in verteilten Rollen eine Fotolovestory aus dem online gestellten Archiv der Bravo vor. Irgendwann sind nur noch Judith und ich im Chat, wir verabreden uns für die nächsten Tage, zum Telefonieren. Noch ein Tschüs, dann ist es wieder still. So brutal still, wie es nur nach dem Ende einer Videokonferenz sein kann.
Wären wir heute alle in Marburg, würden wir jetzt in das Haus mit den legendären Kellerpartys ziehen. Es gibt ja Menschen, die gehen gern allein feiern. Ich gehöre nicht dazu. Meine Freunde und ich haben uns heute nur bei Zoom verabredet, den Rest der Nacht muss ich allein weiter.
Denn es gibt sie ja noch, die Clubs. Nur digital im Netz. In Hamburg überträgt der Bunker am Wochenende seinen #survivalmode-Livestream, in Chemnitz der Atomino-Club Konzerte und DJ-Sets und in Berlin streamt United We Stream jeden Tag seit dem 18. März zwischen 19 und 0 Uhr ein DJ-Set aus einem Berliner Club.
Gerade spielt die DJ Shaleen in der Alten Münze in Berlin-Mitte. Ich mache das Licht aus und stecke mir die AirPods in die Ohren. Wenn man die Augen zumacht, ist es ja fast egal, ob man zu Hause oder im Club tanzt. Ich halte leider aber nicht mal drei Minuten durch, Shaleens Finale ist mir einfach zu krass und auf Techno habe ich ehrlich gesagt auch keinen Bock. Rausch fühlt sich nicht nur anders an. Er riecht auch anders. Nicht nach Rauch und Schweiß und Nacht sondern nach den Spaghetti aglio e olio, die noch vom Mittagessen über sind. Der Initiative spende ich trotzdem zehn Euro via PayPal.
Lieber also ins Molotow, meinem liebsten Indieclub auf der Hamburger Reeperbahn. Hier gibt es leider keinen Stream, sondern nur ein Bild von einem Plakat mit Hinweis auf eine Geistershow: kein Konzert. Kein Publikum. Keine Mitarbeiter. Kein Corona. Ich kaufe trotzdem ein Soliticket für 11,50 Euro. Molotow must stay. Wie schön wäre es jetzt, wirklich hier zu sein. Im Hinterhof mit den abgewetzten Sofas, wo der DJ ziemlich sicher irgendwann Mr. Brightside spielen würde, den ewigen Klassiker. Ich mache YouTube an und rauche eine Nil-Zigarette. Coming out ouf my cage and I’ve been doing just fine.
Mich erfüllt meist dieser eine Moment einer Nacht, der sich, das muss man mal so sagen, irgendwie perfekt anfühlt. Wenn der richtige Song zur richtigen Zeit spielt. Wenn man einander in die Augen schaut und einfach nur grinst. Wenn man dabei vielleicht sogar unter freiem Himmel tanzt, der Sektkorken knallt und man die Flasche im Kreis herumreicht …
Gerade ist das ein undenkbares Bild, eins aus einer anderen Zeit, eins aus dem Davor. Gerade sind wir vernünftig und müssen das meiden, was wir sonst in der Nacht suchen: Nähe. Zu sich selbst, zu seinen Liebsten und ja, auch zu Fremden.
Um 0.10 Uhr beschließe ich deshalb, noch einen Absacker zu trinken, und lande in der We-stay-the-fuck-home-Bar. Die hat eine Gruppe von Designern aus St. Petersburg entwickelt, um die Spontanität der Nacht trotz Corona wieder ins Internet zu holen. Ich freue mich darüber, denn mittlerweile ist es nach Mitternacht und mein Riesling leer. Ich mache mir ein Astra auf.
In der Stay-the-fuck-home-Bar sind immer zehn Menschen in einer Zufallsvideokonferenz zugeschaltet. Auch hier sprechen alle über Corona. Ele aus Italien berichtet über die Bilder der Särge aus Bergamo, Staysa aus Moskau erzählt, dass sie ihren Job als Kellnerin verloren hat, und Paul aus Montana sorgt sich um die wirtschaftlichen Folgen.
Ich sage, es ist etwa 0.25 Uhr: Ich mache mir ehrlich gesagt gerade mehr Sorgen um die Kapazität des Gesundheitssystems als um die Wirtschaft, auch wenn das natürlich nicht egal ist …
Paul: Ja, aber was erwartest du von einem Amerikaner?
Alle: Lachen.
W, der seinen echten Namen nicht verrät, aus St. Petersburg und Jen aus Manchester versuchen immer wieder, das Gespräch von Corona weg und auf andere Themen zu lenken. Sie schaffen es nicht. Selbst als Symon mit Jen zu flirten versucht, weil er ihren British accent so schön findet, reden alle weiter über die Pandemie. Ich kann Jens Gesicht nicht deuten. Wie auch, ich kenne sie ja nicht. Lache aber ein bisschen und sie mir auch zu. Wieder ärgere ich mich, dass wir jetzt nicht einfach eine vor der Tür rauchen können, um zu klären, ob Symon nun süß oder nervig ist.
Ich bleibe länger in der Stay-the-fuck-at-home-Bar, als ich wahrscheinlich sollte. Es ist wie immer. Vielleicht passiert ja noch was, denke ich und bleibe sitzen. Vielleicht schaltet sich noch jemand aus Frankreich ein. Oder aus Spanien. Wie es da wohl ist? Ich warte und rauche um 2.56 Uhr meine letzte Nil-Zigarette. Es geht schon wieder um Corona, Paul erzählt mittlerweile, dass die Amerikaner im Moment Waffen kaufen würden, die Europäer hingegen … „Toilettenpapier!“, erwidere ich noch müde.
Dann sage ich, ich weiß nicht mehr wie spät genau: Sorry, Leute, es ist echt spät mittlerweile, ich glaub, ich muss nach Hause.
Was ist eigentlich die Nacht ohne ihre Wege? Ohne das Jackeholen, Jackeanziehen, das Noch-Eine-Rauchen, zusammen zur U-Bahn, bis in den Club und dann nach Hause, manchmal ewig, ins Bett.
Doch am Ende dieser Nacht bin ich doch ein bisschen froh, dass mein Bett nur ein paar Meter entfernt schon auf mich wartet.